Das Meer in deinem Namen
geärgert, dort an dem anderen, wärmeren Ozean. Offenbar wuchs diese Pflanze in beiden Meeren. Die Taschenlampe fest umklammernd folgte Carly der dunklen Spur, die der aufgeworfene Tang entlang des Flutsaums legte, spürte dem Gefühl an ihren Füßen nach, hörte auf das mächtige doppelte Rauschen von Wind und Wellen und mochte den Blick nicht heben, bis sie etwas blendete. Sie zuckte zusammen. Weit in der Ferne sah sie das Blinken, rhythmisch, dreimal, dann eine lange Pause, dann wieder. Der Leuchtturm, natürlich! An den Wänden in Synnes Galerie hatte sie mehrere Bilder davon gesehen, und da war ja auch Hennys Zeichnung, die auf halber Treppe hing. Der schmale Lichtstrahl wirkte fast lächerlich in der Weite, von der sein Schein Carly eine Ahnung aufzwang. Er spiegelte sich für Momente auf der windzerzausten Fläche, zeichnete weißes Funkeln auf dunkle Wellen und löschte gleich wieder alles. Carly setzte sich; ihr war schwindlig, als hätte sich nicht das Licht, sondern der Boden bewegt.
Wieder sah sie das Bild vor sich, nur umfassender diesmal: ihre nackten Kleinmädchenfüße im Sand, daneben Tante Alissas knochige mit dem langen mittleren Zeh, auf der anderen Seite schmale Frauenfüße mit silberweiß lackierten Nägeln. Die Füße ihrer Mutter! Das Meer war warm, der Tang ringelte sich leuchtend grün im flachen Wasser und die Sonnenhitze lag schwer auf ihren Schultern. Die beiden Frauen hielten Carly bei den Händen, schwangen sie lachend vor und zurück, bis die Stimme ihres Vaters kam: „Los, flieg, Fischchen!“
Die Frauen ließen sie los und sie flog in seine Arme. Er stand hüfthoch im ruhigen Wasser; ihr war schwindlig während der einen Sekunde in der Luft, aber sie zweifelte nicht daran, dass er sie sicher auffangen würde.
Das hatte sie nicht gewusst, dass die Stimme ihres Vaters noch lebendig war, nur verschüttet in ihrem Gedächtnis.
Kälte überspülte Carlys Zehen. Der Wind wurde stärker, verwehte das Bild in ihrem Kopf, schob die Wellen höher. Carly starrte auf den weißen Saum. Jede Welle lief in einer anders geschwungenen Linie auf dem Sand aus. Wie Schreibschrift, die wirkte, als würde sie jeden Moment lesbar, nur um sich gerade dann zurückzuziehen, im Wasser aufzulösen oder im Sand zu versickern. Carly stand auf, lief wie gebannt immer weiter, immer in eine Richtung, den Blick auf diese bewegten Schnörkel gerichtet, die zwischendurch vom Leuchtturm scharf erhellt wurden, als wollte er ihr helfen, die Botschaft zu entziffern. Ihre Jeans waren längst bis zum Knie durchnässt und schwer vom Meerwasser, eisige Nadeln prickelten in ihren Beinen. Sie war dankbar für dieses konkrete Gefühl auf ihrer Haut, auf das sie sich konzentrieren konnte. Alles andere war so viel, mischte sich zu einem unkontrollierbaren Strudel; die scharfe Sehnsucht nach Thore, die bruchstückhaften, auf einmal überdeutlichen Erinnerungen aus einer anderen Zeit, das Erstaunen, ihrer alten Angst ein neues Stück entgegengetreten zu sein, und über alledem der Triumph, die brausende Euphorie: Sie war am Meer! An ihrem Meer, an das es sie seit einer Ewigkeit zog, das immer wieder ihre Gedanken, Fragen und Träume beherrscht hatte, selbst wenn sie in die Sterne sah oder mit Thore lachte. Sie flog auf dieser salzigen Euphorie, flog wie damals, in jenen hellen, sorglosen Sekunden.
Dann wagte sie es doch. Wagte einen Blick dahin, wo hinter der Dunkelheit der Horizont sein mochte, und erschrak: Eine Ahnung von Helligkeit machte sich dort breit, und, als sie zum Land sah, über den Kiefern erst recht. Die Dämmerung drohte, und für die war sie nicht bereit. Die würde den Blick auf die Weite freigeben. Hastig verließ Carly den Flutsaum, rannte die Dünen hinauf, doch noch war der nächste Bohlenweg, der nächste Strandübergang nicht in Sicht. Der Wind hatte nachgelassen, es fing an zu regnen. Sie zog die Kapuze ihres Anoraks hoch. Um die aufsteigende Panik zu unterdrücken, fing sie an zu singen, das erste Lied, das ihr in den Kopf kam. Es war keines der Lieder, die Friederike spielte. Es war das, was sie mit Rory damals gesungen hatte, um sich Mut für den Abschied zu machen: „ Oh Susanna, oh don’t you cry for me ...“
Gut, dass sie niemand hörte. Singen war nicht ihre Stärke, aber es half. Eine Lücke öffnete sich im Waldstreifen, ein Bohlenweg kam in Sicht. Sie zog eilig ihre Schuhe wieder an und folgte ihm zur Straße. Dort wusste sie auf einmal nicht, in welche Richtung sie gehen musste. War
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