Das Meer in deinem Namen
ließ es nach.
Sie vermisste das Helle in seiner Stimme, seinen Arm um ihre Schultern, sein unvermutetes Auflachen, den Ernst und die Neugier in seinen Augen, wenn er zuhörte. Die zärtliche Art, wie er mit der erhobenen Hand seine Worte unterstrich. Seine Angewohnheit, mitten im Lauf stehen zu bleiben, wenn er etwas besonders leidenschaftlich erklären wollte oder wenn ihm eine Frage einfiel. Die Eile, mit der er sich meist selbst voraus war. Sie vermisste sogar die Angst, die sie um ihn hatte, wenn sie ihm die Müdigkeit anmerkte, die daher kam, dass er zu allen Gelegenheiten ja sagte, jeden Vortrag, jedes Projekt annahm, immer an beiden Enden brannte, kaum schlief aus Angst, einen Bruchteil zu viel Leben zu versäumen.
Immerhin hatte er jetzt Urlaub, das war gut.
Sie hatte für einen Augenblick das Gefühl, ohne ihn keinen Schritt vorwärts bewältigen zu können. Doch das kleine Schiff in ihrer Tasche gab ihr Kraft. Dieser Gang zum Meer, das war sowieso etwas, das sie alleine machen musste.
Hier und heute aber, allein am Rande des Landes in der nebelschweren Nacht, wurde ihr mit einer Gewissheit, die seltsam über ihr Alter und ihre Erfahrung hinausging, etwas klar. Ihre Gefühle für Thore waren nie nur das Verliebtsein einer Studentin in ihren Professor gewesen, nie das Klischee, das sie befürchtet hatte, nie Einbildung, nie flüchtig, nie Gewohnheit.
Egal, was für Lieben und Beziehungen es noch in ihrem Leben geben würde, egal, wie fern Thore ihr sein mochte, er würde immer diese Bedeutung für sie haben, würde unvermeidlich und willkommen im Hintergrund ihr Leben prägen. Er war eine unvergängliche, besondere Liebe, der zu begegnen man das erstaunliche Glück haben kann und deren Glanz und Schmerzlichkeit gleichermaßen gegenwärtig bleiben. Geschliffen zwar vom Geschehen und von der Zeit wie Jorams Treibholz, aber ebenso lebendig wandelbar und ebenso unsinkbar wirklich. Eine Liebe, die für den, der sie erfahren hat, alles bewegt, alles erschüttert, alles möglich macht. Sie bleibt auch nach einem Vierteljahrhundert gültig, ändert auch dann noch den Geschmack einer Schneeflocke, den Unterton einer Melodie. Alles, das einem begegnet, färbt sie heimlich eine Spur anders.
Diese Liebe schließt nicht aus, dass man wieder und anders lieben kann. Bei dem bloßen Gedanken daran, derjenige könnte einmal nicht mehr gegenwärtig sein, geht ein Bruch durch die eigene Welt, der alles scharfkantig gegeneinander verschiebt. Und doch sorgt sie dafür, dass es ein unerschütterliches Stück festen Boden gibt, ganz gleich, was sich sonst gerade im Leben auflöst.
Alles, was noch kam, würde nicht statt dieser Liebe gelten und gelingen, sondern trotzdem und gerade deswegen.
Thore hatte sie hierher geschickt, aber sie musste ihren Weg ohne ihn gehen. Hier war der nächste Schritt das Meer, die Begegnung mit ihrer anderen Sehnsucht und mit ihrer Angst zugleich.
Am Deich, dem Schutzwall zwischen Meer und Land, duftete es nach reifem Sanddorn. Ihr fiel ein, dass Anna-Lisa ihr Sanddorntee empfohlen hatte, gleich morgen würde sie welchen kaufen und dann vielleicht mit Anna-Lisa Kekse dazu backen. Es tat einem Haus, das lange allein gelassen worden war, gut, wenn es nach selbstgebackenen Keksen roch.
„Lenk nicht ab, Mädchen!“, befahl sie sich selbst, folgte dem Bohlenweg die Düne hoch. Wäre der Sand nicht trotz der Dunkelheit hell gewesen, hätte sie jede Orientierung verloren. Das Wellenrauschen, vom Wind verwirbelt und gegen den Deich und den Waldstreifen geworfen, schien von überall zu kommen.
Oben hörten die Bohlen auf; Sand rieselte in Carlys Schuhe. Sie bückte sich, zog sie aus und band sie mit den Schnürsenkeln an ihrem Gürtel fest.
Eigenartig vertraut, das Gefühl von Sand unter ihren Sohlen, als lägen nicht zwanzig Jahre zwischen heute und dem letzten Mal. Sicher, sie hatte unzählige Sommer hindurch barfuß in der Sandkiste gespielt, mit und ohne Eierpampe. Aber das hier war etwas völlig anderes.
Die Muschelschalen zwischen den Zehen, dann der Übergang vom warmen lockeren Sand zum feuchten, festeren, federnden am Flutsaum. Nasser Tang, vom Meeresgrund losgerissen und von den Wellen dem Land vor die Füße geworfen: Diesen modrigen, salzigen, dunkelgrünen, geheimnisvollen Duft nach Leben hatte sie nicht vergessen. Sie bückte sich, tastete nach den glitschigen Strängen. Ein Stück Blasentang platzte unter ihrer Berührung mit einem kleinen Knall. Damit hatte Ralph sie früher
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