Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
Vom Netzwerk:
gerne.“ Er gähnte. „Carly …“
    „Ja?“
    „Ist der Traum jetzt weg?“
    „Ja. Erst mal. Tut mir leid, dass ich Christiane geweckt habe.“
    „Sie wird es überleben. Schlaf gut, ja?“
    „Du auch.“

    Sie lehnte sich im Sessel zurück. Es war schön gewesen, seine Stimme zu hören. Was er dachte? Das wusste sie tatsächlich schon lange nicht mehr. Christiane hatte kaum merklich alles Denken und Fühlen zwischen ihnen in die Flucht geschlagen. Aber Christiane allein war nicht schuld an der Entfremdung.
    Auf dem Tisch neben ihr lag etwas Rundes. In Gedanken versunken nahm sie es in die Hand. Es fühlte sich seidig an, fügte sich angenehm in die Wölbung ihrer Hand; ein matter Glanz lag darauf. Sie betrachtete es näher. Aus sehr leichtem Holz, irgendwo zwischen kegel- und birnenförmig, leicht schief. Offenbar war das Ding aus Scheiben zusammengeleimt, immer abwechselnd eine helle und eine dunkle, unterstützt von einem großen Nagel, der mitten hindurch ging. Sein abgewetzter Kopf bildete die blanke Spitze.
    Carly sah auf dem Tischchen nach, sie kannte ja mittlerweile Hennys Angewohnheiten. Tatsächlich, da lag der Zettel mit Jorams Handschrift.
    „Das ist ein Kreisel. Sollte jedenfalls einer werden. Ich habe ihn früher einmal zur Probe für mein Gesellenstück angefertigt. Der Schwerpunkt stimmt nicht ganz, aber mit viel Geduld bekommst du ihn wunderbar zum Kreiseln. Es funktioniert nur dann, wenn du selbst im Gleichgewicht bist mit deinen Gefühlen. Je öfter du ihn in die Hand nimmst, desto glatter wird die Oberfläche, bekommt diesen Glanz, den keine Politur hergibt, sondern nur Hautfett, durch die Berührung menschlicher Hände mit Holz.“
    Darunter eine Notiz von Henny:
    „Heute habe ich es geschafft, nach all den Jahren zum ersten Mal. Es war ein guter Tag: Joram war da, wir haben zusammen gelacht und geschwiegen; später ist mir eines dieser seltenen Bilder gelungen, mit denen ich völlig zufrieden bin, und schließlich war ich nach Sonnenuntergang schwimmen. Danach war diese glückliche Stille in mir, und ohne es lange zu versuchen, ging das mit dem Kreisel.“
    Darunter, auch in Hennys Schrift, die aber kleiner war, unsicherer, ein weiterer Vermerk:
    „Es ist mir nie wieder gelungen.“
    Aber in den Händen gehalten haben musste sie ihn oft, mit einer Zärtlichkeit, die Joram galt.

    Carly versuchte es, gemeinsam mit der Stille der Nacht, in der nur gelegentlich der Wind aufrauschte. Der Kreisel trudelte sofort auf der Seite aus. Wie sollte es auch anders sein, wenn noch so viel offen war. Schließlich legte sie ihn, warm geworden von ihren Händen, sorgfältig auf den Zettel zurück.
    Sie knipste die Lampe aus, saß noch einen Moment in der Dunkelheit. Hellwach jetzt lauschte sie auf den Wind. Er klang nicht bedrohlich, wie im Traum. Er lockte, rief. Und er war nicht allein. Er trug ein anderes Rauschen, ein anderes Rufen in sich: das der Wellen, die draußen am Strand zum ersten Mal seit damals so nahe waren.
    Das Meer. Es war Zeit! Genau jetzt. Sie würde zum Meer gehen, solange der beredte Wind bei ihr war und die kühle Nacht, die den Horizont schluckte. Vor Dunkelheit fürchtete sie sich nicht, auch nicht vor Sturm. Der hohe ungebrochene Himmel, die gleißende, in der Hitze schimmernde stille Weite und der ferne, gerade Horizont von jenem lang vergangenen Sommermittag: Das hätte ihr Angst gemacht. Ihre kindlichen Alpträume waren voll grellem Licht gewesen, nicht dunkel.

    Carly schaltete in der Bibliothek das Licht aus, ging in den Flur.
    Das Licht von dort fiel auf den Kreisel und schimmerte auf dem Holz, auf dem Carlys Berührung einen aufgefrischten Glanz hinterlassen hatte.
    Sie zog sich an, ersetzte Hennys Jacke durch ihren Anorak, steckte das kleine Bernsteinschiff und ihre Taschenlampe ein, ohne die sie seit den Campingtagen mit Miriam nie verreiste.

    Draußen waren keine Sterne sichtbar, auch kein Mond. Der Wind kam vom Meer. Unter seinem Druck beugten sich die Kiefern über das Land, noch eine Spur dunkler als die Nacht. Irgendwo im Wald dröhnten vereinzelt die Rufe der Hirsche. Carly atmete die kühle Luft tief ein.
    In den Häusern brannte nirgendwo mehr Licht, nur die wenigen Straßenlaternen streuten ein paar Schatten zu Carlys Füßen. Auf einmal fehlte ihr Thore so sehr, dass es schmerzte, ein scharfes Brennen wie früher, wenn sie sich wieder einmal in einen Ameisenhaufen gesetzt hatte. Nur diesmal von innen. Sie kannte das schon, da musste sie durch, irgendwann

Weitere Kostenlose Bücher