Das Meer in deinem Namen
obere Kleid vom Stapel und probierte es an.
„Klein, zierlich, ein bisschen wie du“, hatte Thore über Henny gesagt. Tatsächlich. Seine Erinnerung musste stimmen, denn das Kleid passte in Schultern und Taille genau, und dass es ihr fast bis zu den Knöcheln reichte, war offenbar so gedacht. Es war sandfarben mit einem dezenten weißen Gräsermuster. Gemütlich! Sie konnte Henny verstehen, dass sie sich darin wohlgefühlt hatte.
„Kleider entsorgen“, hatte Thore aufgezählt, als er überlegt hatte, was es hier zu tun gab. Entsorgen, was für ein Wort! Dieses hier würde sie behalten und die anderen vielleicht auch. Henny hatte sicher nichts dagegen. Irgendwie passte es ihr nicht nur äußerlich.
Müde war sie immer noch, aber sie fühlte sich leicht. Das Kleid kam ihrer Stimmung entgegen. Sie war tatsächlich am Meer gewesen! Gut, wirklich gesehen hatte sie es noch nicht, nicht bei Tageslicht, aber gefühlt, gerochen, gehört. Sie war ihm begegnet: ihrem Traum und ihrem Alptraum.
Ein Tee weckte sie vollends. Dankbar spürte sie die Wärme im Magen. Anna-Lisa hatte allerdings recht, es gab besseren. Vielleicht würde eine Radfahrt in den Ort ihr guttun. Die Tasse in der Hand trat sie auf die kleine Loggia hinaus. Es regnete immer noch, und wie! Die Luft roch himmlisch. Im Haus war es ein wenig stickig. Staubig. Sie erinnerte sich an die Spinnweben, die sie vorhin entdeckt hatte. Ein guter Tag für einen Hausputz. Dabei konnte sie gleich einen Überblick über die Bilder und Möbel gewinnen. Vielleicht rief Thore bald an. Sie musste endlich mit ihrer eigentlichen Aufgabe beginnen.
Das Schild stand immer noch an das Geländer gelehnt. Sie beugte sich darüber, hob es an. Gut sah es jetzt aus, frisch und freundlich. Sie fuhr mit dem Finger darüber, um die Farbe zu prüfen. Trocken. Aber was war das? Sie spürte eine Unebenheit an der Kante. Da steckte ein gefaltetes Stück Alufolie in einem Spalt, als hätte jemand sein Kaugummipapier dort versteckt. Vorsichtig zog sie es heraus, faltete es auseinander. Das Papier darin hatte modrige Stellen, aber sie konnte Jorams Schrift noch lesen.
„Ich bin nicht beleidigt, wenn du das Schild nicht aufhängen magst. Mach das nur, wenn du findest, es passt. Ich weiß, du hast in all den Jahren, die du hier lebst, noch nie den Namen für das Haus gefunden, der dir genau passend erschien. Es ist nur so: Als ich das Haus das erste Mal sah, wie es auf dem Hügel saß mit dem Reetdach, das nass und dunkel war vom Regen, und mit den weißen Wänden darunter und drumherum deine Blumen, alle weiß wie die Gischt und blau wie die Wellen, da musste ich an eine Lachmöwe denken, die gerade auf dem Meer gelandet ist. Weil sie auch so einen gegen das Weiß abgegrenzten dunklen Kopf hat. Naurulokki, das ist Finnisch für Lachmöwe. Ich finde, das ist ein guter Name für das Haus. Ich habe den Garten das ganze Jahr hindurch beobachtet und bemerkt, dass du wirklich nur weiße und blaue Blumen hast. Krokusse, Anemonen, Vergissmeinnicht, Hornkraut, Schleifenblumen, Margeriten, Rittersporn, Eisenhut, Glockenblumen, Astern ... ‚Das passt am besten zum Himmel und zum Meer’, hast du mir später erzählt, ‚und außerdem schenkt es dem Geist und der Seele Ruhe.’
Ich finde immer Ruhe bei dir. Aber die Lachmöwe steht für Leichtigkeit und Heiterkeit, und die braucht es auch. Außerdem sind sie so zierlich und lebendig wie du. Herzlichen Glückwunsch übrigens!“
Darunter Hennys Schrift:
„Joram hat mir das an meinem Geburtstag frühmorgens vor die Haustür gelegt. Später kam er vorbei und brachte noch die Möwenköpfe für die Haustür. Wir haben beides zusammen angebracht und er hat mir passende Windbretter für die Giebel versprochen. Ich habe ihm erzählt, wie sehr mich die Pferdeköpfe anöden, jedes Haus hat sie, das ist so eintönig. Naurulokki, das braucht etwas Eigenes. Etwas Leichteres. Ja, Naurulokki, das passt!, das ist der Name, den ich schon lange gesucht habe. Ein schöneres Geschenk hätte er mir nicht machen können. Niemand kennt mich so gut wie Joram. – Ob es wohl mit Nicholas eines Tages auch so gewesen wäre?“
Wer, bitteschön, war denn nun wieder Nicholas? Hatte Henny auch einen Rory in ihrem Leben gehabt? Oder einen Orje? Carly faltete den Zettel behutsam zusammen, steckte ihn in die Tasche. Sie sah sich um. Es war ihr noch gar nicht aufgefallen, aber um das Haus herum blühten tatsächlich nur blaue Astern, Eisenhut und weiße Dahlien, weiße Rosen,
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