Das Meer in deinem Namen
einfach vorbei. Ich wohne in Prerow.“ Er drückte Orje eine Karte in die Hand.
„Meinst du, das lohnt sich für dich? Shantys in Berlin?“, fragte Carly, als sie später Friederike einluden.
„Ich mag das Meer. Du jetzt auch. Ich werde noch öfter herkommen. Oder wir. Es gibt viele Orte, wo ich spielen könnte. Und wenn ich Synne vielleicht manchmal besuche ...“
„Das ist ein guter Grund.“
Henning Weritz führte sie auf seinen Dachboden, der vollgestopft war mit alten Dingen und Carly beglückte. Die tiefe Abendsonne fiel durch das Giebelfenster, ließ staubige Gegenstände geheimnisvoll aufleuchten. Während die Männer verhandelten, stöberten Anna-Lisa und Carly ausgiebig herum.
Ganz hinten an einem Holzbalken lehnte ein Ölbild. Klare Farben, feine Konturen. Etwas daran zog Carly sofort an. Sie vergaß Anna-Lisa und Orje, die Stimmen verschwanden aus ihrer Wahrnehmung. Zuerst war es die Atmosphäre, das Licht, das sie gefangen nahm. Warm und seltsam wild zugleich. Carly hockte sich davor. Eine Düne, auf der krumme Kiefern und verwitterte tote Stämme, silbern geschliffen von Wind und Sand, in einen Abendhimmel ragten. Davor am Strand stand barfuß eine zierliche junge Frau. Sie trug ein schlichtes, langes Kleid mit einem Möwenmuster und ihre langen rotbraunen Locken waren wirr und wehten leicht im Wind. Für einen Moment dachte Carly, sie hätten sich bewegt. Die Frau lächelte den Betrachter an, offenbar in der Erwartung, er würde ihre Freude teilen. Ihre rechte Hand war flach ausgestreckt, und in der Handfläche lag etwas Schimmerndes.
Carly nahm das Bild in die Hand, drehte es ins Licht.
Das Bernsteinschiff! Ihr Bernsteinschiff mit den silbernen Segeln, eindeutig. Aber nicht nur das: Es waren drei Schiffe, alle identisch, nur der Rumpf des einen war eine Spur dunkler, der des anderen heller. Carly betrachtete die Signatur.
Nicholas Ronning, 1953.
Carly drehte die Leinwand um. Schon bevor sie die Bleistiftnotiz sah, war sie sich sicher.
„Henny Badonin am Strand von Ahrenshoop“, stand da.
21. Licht auf dem Wasser
„Ich dachte, du solltest Naurulokki räumen und nicht den Dachboden eines Henning Weritz“, meinte Orje, der versuchte, im Rückspiegel über den Haufen Gegenstände auf dem Sitz neben Anna-Lisa noch etwas zu sehen.
„Aber ich freu mich so über die Lampe für mein Zimmer!“ Anna-Lisa rutschte kindlich auf dem durchgesessenen Polster hin und her. „Und Papa werden die geschnitzten Hechte als Buchstützen gefallen, die Carly für ihn ausgesucht hat. Vielleicht auch, weil Carly sie ausgesucht hat“, fügte sie verschmitzt an.
„Und Thore braucht natürlich unbedingt das Buch über Himmelskunde von 1725 mit Ledereinband und Goldschnitt.“ Orje grinste Carly an.
„Ich konnte es doch nicht dort vergammeln lassen!“, protestierte sie. „Und dass ich das Bild von Henny haben musste, ist doch klar. Wo wohl die anderen beiden Schiffe geblieben sind?“
„Schade, dass er nicht wusste, wie sein Vater zu dem Bild kam. Immerhin war er fair, was die Preise angeht. Dass du Henny so ähnlich siehst, hat wohl geholfen. Und die Walze für Friederike ist ein Glückstreffer.“
„Oma Jule wird staunen, wenn du damit ankommst. Damit erhältst du die Familientradition aufrecht. Musst du wirklich heute Nacht schon zurück nach Berlin?“
„Ich muss doch morgen arbeiten. Nachher treffe ich mich noch kurz mit Synne, und dann geht’s los.“
„Kommst du bald wieder?“, fragte Anna-Lisa von hinten.
„Bestimmt. Jetzt kann Friederike Shantys, da muss ich ja ab und zu ans Meer mit ihr.“
„Es war gut, dass du da warst“, sagte Carly leise.
Jeder aus einem anderen Grund zufrieden, trugen sie ihre Beute den Hang hinauf. Auf halbem Weg blieb Carly so plötzlich stehen, dass Orje ihr mit der schweren Walze in den Rücken puffte.
Auf der Treppe vor Naurulokkis Haustür saßen zwei vertraute Figuren. Sie sahen genau gleich aus und durften gar nicht da sein. Peer und Paul! Allein schon ihre Silhouetten versetzten Carly einen Stich; sie waren Thore allzu ähnlich. Ihre Locken, ihre Gesten, ihre Art zu laufen. Nur, dass sie jetzt schon einige Zentimeter größer waren als er. Als sie Carly bemerkten, stürmten sie ihr auf langen, dreizehnjährigen Beinen entgegen und redeten wie immer gleichzeitig auf sie ein.
„Endlich! Wir haben auf dich gewartet!“
„Wir wollten dich besuchen ...“
„... und mal ans Meer ...“
„… und das Haus sehen, ehe es verkauft wird
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