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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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die Stimme hörte, verschluckte sie sich.
    „Tante Alissa!“
    Carly schnitt eine verzweifelte Grimasse. Orje betrachtete sie interessiert.
    „Wie geht es dir ... prima ... ja, ich weiß, dass der Empfang schlecht ist! Nein, nicht mir ist schlecht, es geht mir wunderbar, der Empfang ist schlecht ... die Hinterhöfe, du weißt doch ... bei Orje im Hof, ja ...“ Carly gestikulierte wild, zeigte auf Friederike und machte Kurbelbewegungen.
    Orje verschluckte ein Lachen und tat ihr den Gefallen, spielte ein Bruchstück „Berliner Luft“.
    „Hörst du, Orje und Friederike grüßen dich ... ja, ich weiß, die Luft bei dir auf dem Berg ist besser als die Berliner. Genieße sie ... ich melde mich ... tschüss, Tante Alissa!“
    Carlys Appetit war vergangen. Bekümmert betrachtete sie das Marmeladenbrot.
    „Ich konnte es ihr nicht sagen. Nicht so am Telefon. Sie würde keine Nacht schlafen, bevor sie mich nicht wieder in Berlin wüsste.“
    „Ich denke, im Moment hast du das Richtige getan. Iss dein Brot.“
    „Ich habe sie angelogen.“
    „Das ist eine sogenannte weiße Lüge. Im Moment besser für alle Beteiligten. Wenn du zurück bist und sie dich gesund vor sich sieht, kannst du eine Beichte ablegen. Jetzt kümmerst du dich erst um deinen Job und um dich selbst. Wir haben nämlich was vor. Lektion zwei.“
    „Lektion zwei?“ Carly war in Gedanken noch bei Tante Alissa.
    „Wir gehen auf die Seebrücke. In Prerow. Ich spiele dort heute anlässlich des Seebrückenfestes, deswegen bin ich doch hier.“
    „Die Seebrücke?“
    „Eine Seebrücke ist kein Boot. Sie schwankt nicht, du kannst nicht herausfallen und nicht untergehen und bist doch auf See, weit über dem Wasser. Die in Prerow ist dreihundertvierundneunzig Meter lang, aber wir gehen nur so weit raus, wie du möchtest. Und dann noch drei Meter mehr.“
    „Okay. Seebrücke. Wenn du meinst.“ Carly hatte Zweifel. Sie konnte sich nicht wirklich etwas darunter vorstellen. „Wo führt sie hin?“
    „Zu gar nichts. Man nähert sich ein Stück dem Horizont, verlässt ein Stück den Strand. Man flaniert. Und dann kehrt man wieder um. Man kann auch eines der Schiffe besteigen, die dort anlegen. Aber heute fährt keins.“
    „Eine Brücke, die nirgends hinführt? So was bauen Menschen? Klingt angenehm verrückt.“
    „Na ja. Für manche ist es nur ein Platz zum Anlegen. Für andere ein Weg zu ihren Träumen, zu einer Pause vom Alltag, zum Himmel, ohne fliegen zu müssen. Zu einem unverstellten Blick, zu Weite und Wellen ohne seekrank zu werden. Und für wieder andere einfach nur ein Platz, um Souvenirs zu verkaufen oder zu angeln.“
    „Und für dich?“
    „Ich – ich werfe dort meine Musik in den Wind und in die Träume der Brückenläufer und frage mich, wo sie wohl landet.“
    „Hört sich gut an.“
    „Dann mach dich fertig. Ich lade schon mal Friederike ins Auto.“

    Als Carly das Tor hinter sich schloss, saß Anna-Lisa schon auf dem Rücksitz.
    „Wir nehmen Anna-Lisa mit, Jakob hat es erlaubt“, sagte Orje.
    „Fein!“
    Auf dem Weg nach Prerow staunte Carly über die Vielfalt der Landschaft auf dieser schmalen Halbinsel. Sie fuhren durch einen regelrechten Urwald, passierten kniehohe Wiesen, auf denen der Wind Wellen in die Gräser strich, und erhaschten Blicke auf kleine Häfen. Hier gab es viel zu entdecken. Alles sprach sie merkwürdig an, als hätte es ihr etwas Dringendes zu sagen.
    Orje fing plötzlich an zu singen. „My Bonnie is over the Ocean ...“ Carly sah im Rückspiegel, wie Anna-Lisa ihm einen bewundernden Blick zuwarf und mit einstimmte. Auf einmal fühlte sie sich leicht. Seit Orje hier war, bemerkte sie erst richtig, dass es Sommer war, Ferienzeit. Urlaubsstimmung. Tante Alissa und die Teppichfragen nahmen nicht mehr allen Platz ein.
    Orje hielt an einem Parkplatz, mitten in einem belebten Ort.
    „Gut, dass wir so früh sind“, sagte er. „Später hast du hier keine Chance! Wir lassen Friederike erst mal im Auto, gehen auf die Seebrücke, essen was, und dann such ich mir einen Platz zum Spielen.“
    So lang hatte Carly sich die Seebrücke nicht vorgestellt. Dreihundertvierundneunzig Meter klingt nicht viel, wenn man es als Zahl hört. Aber wenn es ein Weg ist, unter dem sich nur Luft und bewegtes Wasser befinden, vor dem man sich bis gestern noch zutiefst gefürchtet hat, scheint es der Anfang der Unendlichkeit.
    Schnurgerade führte dieser zerbrechliche hölzerne Weg zum Horizont, wies unerbittlich darauf wie ein langer

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