Das Meer in deinem Namen
verstecken würdest.“
„Ich verkaufe genug.“
„Ja, gerade nur so viel, dass es zum Leben reicht.“
Henny lachte.
„Leben ist doch genug! Mehr als leben kann man nicht. Ich habe alles, was ich brauche.“ Sie sah einer Motte nach, die aus dem Gras auf- und in den Abendhimmel flatterte, der so tiefblau war wie die Schale einer der schönsten Miesmuscheln. Am Horizont über den Dünen lag der Rest des Tages als goldener Strich. Das Gras war weich unter ihren Sohlen und aus der Küche klang helles Lachen. Unter dem Reetdachgiebel schwatzten sich die Schwalben in den Schlaf.
„Ich bin glücklich, Myra. Jetzt wieder. Anders als früher, aber doch. Ruhiger und tiefer.“
Myra sah sie prüfend von der Seite an.
„Fast glaube ich dir das. Du hast dich verändert, seit du neulich fort warst, auf dieser Nordseeinsel. Und da ist etwas Leichteres in deinen Bildern. Eine Art frischer Wind.“
„Es war unglaublich dort auf Amrum. Der Wind ist so scharf und salzig, der pustet dir alle Spinnweben aus dem Gehirn, alle Müdigkeit und wirren Gedanken. Wenn Ebbe ist, kannst du auf dem Meeresboden laufen, stundenlang. Da kommt man der Wirklichkeit ganz nahe, ohne dass sie wehtut. Oder jedenfalls kann man es aushalten. Und um den Leuchtturm herum gibt es weite Dünentäler, in denen man allein sein kann, ohne sich auch nur eine Spur einsam zu fühlen. Auf einmal hatte ich keine Angst mehr davor – vor dem Alleinsein. Da waren die Möwen und wilde Kaninchen und – ach, ich kann es nicht erklären. Ich habe mich nicht mehr verlassen gefühlt. Irgendetwas hat mich befreit.“
Henny pflückte eine Pusteblume, blies die feinen Schirmchen in den Wind.
„Und dann habe ich abends am Strand eine Muschel gefunden. Eine Wellhornschnecke, aber sie war besonders groß und hatte eine sehr ungewöhnliche rötliche Färbung. Ganz in der Nähe hatte die Ebbe eine Erhebung im Sand freigegeben, die wie ein Herz geformt war.“ Henny stocherte mit einem Zweig in der Erde herum, wartete auf Myras spöttisches Lachen. Es kam nicht. Myra war immer eine gute Zuhörerin gewesen, wenn Henny etwas ernst war.
„Und weiter?“, fragte Myra nur.
„In dem Moment fühlte es sich an wie eine Botschaft von Nicholas. Da steckte sogar eine Möwenfeder im Sand, wie eine Schreibfeder. Als ob mir das Meer in seinem Namen etwas mitteilte, was er mir nicht selbst sagen konnte. Weißt du noch, wie er mir versprochen hatte, für mich die schönste Muschel der Welt zu finden? Und jetzt lag da diese Muschel neben dem Herz, und mir wurde klar, dass unsere Liebe ehrlich und wirklich war, damals. Das Meer war und ist Zeuge. Und nur weil Nicholas sie nicht weiterführen konnte, aus welchen Gründen auch immer, verliert diese Zeit nichts an Gültigkeit. Das, was das Meer damals gesehen hat und was ich dem Bernsteinschiff anvertraut habe, das ist noch immer wahr. Es hat nur keine Fortsetzung. Aber es bleibt in mir, Teil meines Lebens. Nicholas wird einen Grund gehabt haben. Ich hoffe, er wird auch glücklich. Du hast doch gesagt, es geht ihm gut?“
„Ich habe gesagt, dass er in Amerika angekommen ist und dass er dort Bilder verkauft. Mehr herauszufinden wollte ich meinem Bernsteinkunden in Texas nicht zumuten, ich will ihn nicht vergraulen. Aber das genügt ja.“
„Ja. Mir genügt es. Er lebt. Und ich fühle mich wieder frei, wenn ich male. Ich möchte nirgends anders sein. Ich habe dich und ich habe das Meer, und meine Geschichte ist noch nicht zu Ende. Das hat mir das Meer auch gesagt.“
„Und wer ist dieser Joram Grafunder?“
„Wie bitte?“ Überrascht blickte Henny auf.
„Der dir den seltsamen Fisch aus Treibholz vor die Tür gelegt hat, als du auf Amrum warst. Ich habe die Blumen gegossen, schon vergessen? Ich habe das Ding in die Küche gelegt, damit es nicht nass wird, und da war ein Zettel dran, offen, ohne Umschlag. ‚Bin mal wieder auf der Durchreise. Wollte nicht stören. Danke für die Blumen auf Simons Grab. Der Pfarrer hat’s mir verraten. Gute Fahrt dem Bernsteinschiff! Joram Grafunder’.“
„Ach so. Der ging früher eine Weile in unsere Schule. Da warst du schon nicht mehr dort. Ich hab ihn mal wiedergetroffen, später.“
„Und seitdem legst du Blumen auf seines Bruders Grab?“
„Ich bin doch sowieso dort wegen Oma Matilda.“
Thore und Liv kamen aus der Küche.
„Jetzt ist es dunkel genug, Henny! Die Sterne sind da. Können wir das Teleskop holen?“
„Ja, aber seid vorsichtig und wascht euch vorher den
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