Das Meer in deinem Namen
bezahlen“, meinte Tante Alissa. „Typisch Nelia, sie kann einfach nicht pünktlich sein.“
Carly buddelte einen Graben um ihre Sandburg und füllte mit ihrem kleinen Eimer Wasser hinein. Wenn ihre Eltern noch nicht mit den Sternen kamen, konnte sie Ralph vielleicht überreden, ihr einen Krebs für den Graben zu fangen. Als Burgungeheuer sozusagen. Ein echtes Burggespenst war ja schwer zu fangen, besonders bei Sonnenschein.
Aber Ralph war nicht in der Stimmung und auch Tante Alissa sah noch ernster aus als sonst. Sie starrten nur noch auf den Horizont und suchten nach den gelben Punkten. Fred kam wieder, mit Sorgenfalten auf der Stirn und noch einem Bananeneis für die Kinder. Carly wunderte sich. Zwei Eis an einem Tag, das hatte es noch nie gegeben. Während sie das Eis schleckten, starrte Fred auch auf den Horizont, diesmal mit einem riesigen Fernglas, das Carly nicht gefiel. Es war schwarz und bedrohlich. Ralph konnte es kaum halten, als er auch hindurchsehen wollte. Den Rest vom Eis hatte er in den Sand fallen lassen. Nach einem weiteren Wortwechsel und erneutem Tippen auf die Uhr sprach Fred in eine Art Telefon mit einer Antenne, das knisterte und knackte. Er sagte etwas von „Küstenwache“.
Tante Alissa setzte sich zu Carly und half ihr, die Burg mit Muscheln zu dekorieren, aber ihre Stimme war seltsam hoch und ihre Hand zitterte.
„Ich will, dass Mama kommt!“, sagte Carly.
„Es kann sein, dass sie erst morgen kommen. Vielleicht wollen sie auf der Insel übernachten. Das wäre doch ein tolles Abenteuer“, sagte Tante Alissa mit dieser ungewohnten Stimme. „Auf jeden Fall wird es spät. Ich werde dich jetzt ins Bett bringen.“
Inzwischen stand die Sonne schon tief und rot über dem Horizont. Am Himmel knatterte ein Hubschrauber und draußen waren Boote mit grellen Lichtern unterwegs.
Das Burggespenst war jetzt doch da. Es saß irgendwo klein und hart und kalt in Carlys Magen und flüsterte ihr zu, dass die beiden winzigen gelben Punkte, die mit ihren Eltern im Blau verschwunden waren, nicht wieder größer werden und näherkommen würden. Heute nicht und morgen nicht.
Sie aß nie wieder etwas, das nach Bananen schmeckte.
25. Holzweg
Carly, steif vom langen Liegen, drehte sich mühsam auf den Rücken, sah in den Himmel. Sie fühlte sich, als wäre sie lange unterwegs gewesen. Die Welt um sie herum war zu ihrem Erstaunen unverändert. Eine Weile konzentrierte sie sich darauf, ruhig Luft zu holen. Sie fühlte sich überraschend leicht. Dieser lang vergangene Tag war in alter Lebendigkeit aus seinem Grab unter dem Teppich auferstanden, und es war ihr nichts passiert! Sie hatte sich nicht in diesem Blau aufgelöst. Sie fühlte sich auch nicht bodenlos verlassen wie damals. Im Gegenteil. Dieses alte Gefühl war zum ersten Mal verschwunden. Sie suchte danach, aber dort, wo es gewesen war, war nichts. Nur eine ungewohnte Leere.
Trotzdem hatte sie für heute genug von allem Blau.
Sie wandte sich vom Meer ab. Vom Himmel auch. Statt die Richtung nach Naurulokki einzuschlagen, überquerte sie die Straße. Hier begann der einzige Weg in den Wald, den sie Ahrenshooper Holz nannten. Es war ein Urwald, naturbelassen. Die Sonne malte einzelne Lichtflecken auf den schmalen Pfad, doch die alten Baumkronen waren so dicht, dass der Himmel kaum zu ahnen war. Selbst die Luft schien grün. Für einen Moment dachte Carly, die Erde bewege sich, bis sie bemerkte, dass sich junge Blindschleichen auf dem Weg sonnten. Von ihren Schritten aufgeschreckt, schlüpften sie in die dunklen Ritzen der gefallenen Bäume oder zwischen altes Laub. Carlys Gedanken taten es ihnen gleich. Hier gab es weder Gelb noch Blau, das Grün und die tiefen Schatten taten ihr wohl. Kein Meeresrauschen wagte sich hierher, und der Wind, der in den Ästen erzählte, war ein anderer als am Strand. Sie verbannte die Gesichter und die Stimmen ihrer Eltern für den Moment hinter dieses Grün und diese Stille, folgte dem Pfad geradeaus.
Doch auf dieser Halbinsel führten offenbar alle Wege zu den Toten. Ihr fiel ein, dass in genau diesem Wald vor Jahrzehnten ein bekannter ansässiger Künstler verschwunden war. Verschwunden, genauso wie Joram. Synne hatte ihr davon erzählt. Man rätselte noch heute, was aus ihm geworden war. Im Bodden ertrunken, sagte man, oder von den Russen erschossen und im Wald vergraben. Carly blieb stehen. War da nicht ein Rascheln gewesen? Es wurde dunkler, oder war nur der Wald hier so dicht? War sie überhaupt
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