Das Meer in deinen Augen
statt. Zum zweiten Mal in diesem Sommer holte Benjamin seinen Anzug hervor. Wieder saß er im Fond des BMW und lauschte nur dem Summen des starken Motors. Der Pfarrer verlor einige belanglose Worte über seinen Großvater. Benjamin hatte das Gefühl, dass einem Fremden gedacht wurde. Er selbst verabschiedete heute jemand anderen, den wohl niemand sonst hier wirklich gekannt hatte.
Das anschließende Essen der Trauergäste fand bei einem Italiener statt. Das Restaurant hatte sich gegenüber dem großen Stadtfriedhof in einer alten Villa eingerichtet. Obwohl draußen die Sonne schien und die Terrasse gedeckt war, saßen sie in einem angemieteten Saal. Leise war es. Die Gespräche fanden im kleinen Kreis statt. Viele Gäste waren schon verschwunden.
»Meinst du, es war richtig, dass wir keine Rede gehalten haben?«
»Keine Ahnung, was wolltest du sagen?«
»Weiß auch nicht. War wohl richtig so. Er hätte eh was dran auszusetzen gehabt. War ihm nie recht, wenn wir den Mund aufgemacht haben«, gab Benjamins Vater gleichgültig zurück.
»Das stimmt.« Sein Bruder lachte bitter und zog noch einmal an seiner Zigarette.
»Hab gedacht, unser Alter macht noch länger. Und jetzt so plötzlich.« Ihm entfuhr ein leiser Seufzer.
»Ich frage mich manchmal, wie unsere Mutter es so lange mit ihm ausgehalten hat.«
Es blieb ein paar Minuten still.
»Hat er euch jemals erzählt, was er als Kind erlebt hat?«, brach Benjamin das Schweigen. Die beiden Brüder sahen ihn verwundert an, ehe sein Onkel sich räusperte.
»Im Krieg? Wie kommst du darauf? Soweit ich weiß, war er damals noch klein. Na ja, sie sind geflüchtet, das war hart. Ich glaube, er wollte nie darüber reden«, druckste Peter herum. »Hat ja auch nie jemand gefragt, oder?« Er schaute seinen Bruder fragend an, der bloß schulterzuckend an seinem Kaffee nippte.
»Ach ja, du solltest dann nächste Woche mit Peter dein Praktikum besprechen, ist sicher gut, wenn du trotz allem schon mal vorbeischaust. Wäre doch eine Gelegenheit, das hier alles hinter sich zu lassen«, erklärte er betont aufmunternd, als wären die bisherigen Sommerferien lediglich eine kleine Unannehmlichkeit, die man durch eine Luftveränderung vergisst.
»Du bist herzlich eingeladen«, ergänzte sein Onkel, sichtlich erleichtert, dass sie ein angenehmeres Thema anschnitten. Es gab wohl nichts Wichtigeres zu bereden, stellte Benjamin fest und nickte bloß mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. »Natürlich.«
»Dann kannst’e mit deiner Cousine mal ins Einser.« Sein Onkel schmunzelte und deutete mit einem Kopfnicken hinüber zum Tischende. Mit der Serviettenspitze wischte er sich einen Krümel aus dem Mundwinkel. »Oder, Sina?« Das blonde Mädchen mit der spitzen Nase schaute nur kurz von ihrem iPhone auf. »Hat seit ’n paar Wochen ’nen Freund«, knurrte Peter und grinste schief. Die Asche seiner Zigarette fiel auf den Tisch und bildete einen kleinen grauen Haufen.
»Da werden die Mädels immer ein bisschen verrückt.« Sein Vater lachte. Sina wurde rot im Gesicht. Benjamin fiel dazu nichts mehr ein. Er brauchte jetzt auch eine Zigarette. Aber hier drin wollte er nicht rauchen. Er rückte den Stuhl zurück und verschwand auf die Terrasse. Als er das Feuerzeug gefunden hatte, schaute er durch die Fenster in den Saal. Seine Cousine tippte immer noch auf dem Display ihres Smartphones herum. Sein Vater hatte inzwischen sein Jackett abgelegt. Er machte Bewegungen, als ob er am Steuer eines Autos säße. Onkel Peter grinste und drückte seine Zigarette in dem Aschenbecher aus. Wahrscheinlich redeten sie über ein neues BMW -Modell. In den letzten Tagen hatte er von dem neuen Z4 geschwärmt. Seine Mutter und seine Tante unterhielten sich wahrscheinlich übers Shoppen in Mailand oder München. Warum sollten sie heute eine Ausnahme machen? Je länger er sich die Gesellschaft anschaute, desto dicker schien die Glasscheibe zwischen ihnen zu werden. So dick, dass er schließlich nur noch sein Spiegelbild sah. Dahinter saß seine Familie. Eine Familie, zu der er nicht gehören wollte, die er nicht länger ertragen konnte. Er wollte nur noch abhauen. Morgen würden sie zu einer Hochzeit nach Potsdam fahren. Er würde sich das nicht antun. Das war der richtige Zeitpunkt.
22
Das monotone Klingeln drang langsam in Emmas Schlaf. Das war kein Traum mehr. Sie drehte sich zur Seite und sah ihr Handy auf dem Nachttisch brummen. Benjamin ruft an , stand auf dem Display, das sein kaltes
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