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Das Meer in deinen Augen

Das Meer in deinen Augen

Titel: Das Meer in deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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war es raus. Zum ersten Mal hatte er sich die Worte selbst aussprechen hören.
    Sein Großvater nickte nur stumm und leerte mit einem großen Schluck das Glas. Dann wischte er sich den Mund ab und stellte es wieder ab. »Ich bin aufgewachsen, da war es normal, dass die Menschen starben. Meinen Vater hat es an der Ostfront erwischt. Bei Smolensk. Du glaubst nicht, was ich für einen Hass hatte – sie haben uns ja dazu erzogen.« Dann spuckte er über die Veranda ins Beet und trank das Glas aus.
    »Du hast gesagt, dass du Angst hattest.« Benjamin holte tief Luft. »Warst du selbst im Krieg?«
    »Wenn du das so nennen willst. Eingezogen haben sie mich nicht mehr. Das hat mich damals krank gemacht. Ich wollte – verrückt, ich weiß.« Ein zynisches Lachen. »Na ja, mit zwölf Jahren war ich zu jung. Stattdessen bin ich mit meiner Mutter vor den Russen geflohen. Bei Dresden hat der Zug gehalten. Du hast vielleicht gehört, was damals passiert ist. Die Bomber kamen.« Er ahmte das Geräusch leise nach, gab es aber auf, wohl weil es unnachahmlich blieb. »Eine Scheißangst hab ich gehabt. Meine Mutter hat mir die Augen zugehalten. Ich sollte nicht sehen, wie die Menschen verbrennen.« Er schluckte, blieb aber sonst ganz ruhig. »Sie konnte es nicht verhindern«, erzählte er zähneknirschend weiter. »Wir wurden verschüttet. Ein Wunder, dass wir überlebt haben.«
    Er schaute raus auf den Garten, wo das Gras schon gelbstichig geworden war.
    »Du könntest ihn wässern, wenn du noch Zeit hast.« Er war wieder völlig sachlich. Ohne jeden Ausdruck in dem alten Gesicht.
    Benjamin schwieg. Ihm fiel nichts ein, das der Situation würdig war. Sein Hals war trocken geworden, während er zugehört hatte. Die schwüle Hitze ließ ihn schwitzen. In einem Schluck leerte er sein Glas. Im Kopf schwirrten immer noch die Bilder. »Mach ich«, antwortete er geistesabwesend.
    Der Außenwasserhahn quietschte, dann schoss das eiskalte Wasser heraus. »Musst den verdammten Schlauch anschließen.« Sein Großvater stand neben ihm, auf die Krücken gestützt.
    Benjamin drehte den Hahn wieder zu und suchte im Schuppen.
    Die Sonne stand inzwischen tief. Ein Regenbogen bildete sich über dem Rasen, während er ihn sprengte. Es sah schön aus, die bunten Farben. Kurz schaute er sich um. Sein Großvater beobachtete ihn, bis jeder Fleck Gras benetzt war und jeder Halm im Abendrot glitzerte.
    Dann spuckte er aus und nickte zufrieden. »Komm’ wir essen Gulasch.«

21
    Die Schulpraktika sollten kurz nach den Ferien beginnen. Ein Gutes hatte es: So würde Benjamin die Blicke und Fragen in der Schule nicht lange ertragen müssen. Jetzt stand er auf dem Bahnsteig und wartete auf den Zug nach München, der sich bereits um eine halbe Stunde verspätete. Er sollte vor Ort schon mal die Einzelheiten seines Praktikums besprechen.
    Unnötig, wie Benjamin fand. Er würde bei seinem Onkel in der BMW -Zentrale sitzen und das Sales Management kennenlernen. Seinen schwarzen Anzug würde er tragen, erwachsen aussehen, und sein Onkel würde bei den Telefonaten Grimassen schneiden, um ihn zu belustigen. Dann würden sie mittags in ein sündhaft teures Lokal gehen, wo auch die anderen Manager Sushi aßen. Sein Onkel würde erklären, welche Meetings am Nachmittag anstünden, und kumpelhaft fragen, ob er im Oktober mit auf die Wiesn käme. Benjamin konnte es sich so genau vorstellen, dass es schon wieder erträglich wirkte, weil er wenigstens keine Überraschungen erleben würde. Er hatte sich gerade auf einer der Bänke in den markierten Raucherzonen niedergelassen und eine Zigarette angesteckt, da knackte der Lautsprecher wieder und der Zug wurde angesagt.
    Der ICE kreischte bei der Einfahrt. Benjamin trat die gerade erst zur Hälfte heruntergebrannte Kippe aus und erhob sich so langsam wie nur möglich. Die meisten Reisenden drängelten sich an der Tür, weil sie rasch einen freien Platz finden wollten. Sein Vater hatte ihm eine Reservierung gebucht, sodass er einen der Zusteigenden gleich würde vertreiben müssen. Genauso gut konnte er sich auch in den Gang setzen. Das würde er wohl tun, überlegte Benjamin sich. Die Menschentraube wurde kleiner und er näherte sich Stück für Stück der Tür des Erste-Klasse-Waggons. Fast hätte er sein Handy überhört. Der Klingelton war so gewöhnlich, dass es jeder auf dem Bahnsteig hätte sein können, der angerufen wurde. Die Möglichkeit, dass ihn jemand erreichen wollte, schien seinem Unterbewusstsein so abwegig,

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