Das Meer in deinen Augen
rätseln, dann aber nickte sie nur verlegen. »Wir sehen uns.« Und schon war sie weg. Die Ampel war grün. Sie lief über die Straße und erreichte die Linie 4 gerade noch. Keine Chance. Nur einen letzten Blick, den konnte er noch erhaschen. Dann reihte sich der Bus in den Verkehr ein und verschwand. Da stand er, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und ließ das Leben an sich vorbeiziehen. Die Tür hinter ihm ging auf, und die anderen Gäste verließen das Lokal. Benjamin beachtete sie nicht, schaute durch sie hindurch. Die Geräusche hallten alle ganz merkwürdig, als wäre er unter einer Taucherglocke eingesperrt. Alles passierte so verdammt langsam, und trotzdem konnte er nichts davon aufhalten.
»Hey, du hast dein Portemonnaie vergessen.« Erst spät fuhr er herum und sah den dicken Besitzer auf der Treppe stehen. »Oh … danke.« Jetzt hatte er verstanden und nahm dem Mann die Geldbörse ab.
»Pass beim nächsten Mal besser auf.«
»Klar.«
Der Typ verschwand wieder und ließ Benjamin zurück. In der Hand hielt er das dicke Lederportemonnaie. Er klappte es auf und sah die schimmernde Kreditkarte. Das letzte Mal hatte er sie in dem Supermarkt auf Sardinien benutzt. Dieses Stück Plastik kam ihm auf einmal vor wie der Ursprung allen Übels. Kaum zu glauben, dass diese Karte mal das gewesen war, was ihm Macht verliehen hatte. Nichts davon spürte er mehr. Die Sonne spiegelte sich in dem goldenen Chip. Mit einem leisen Knacken war die Karte zerbrochen.
20
Schon am nächsten Tag stieg Benjamin wieder auf seine Vespa und fuhr raus in die Vorstadt. Er fühlte sich nach wie vor an sein Versprechen gebunden, sich um seinen Opa zu kümmern.
Trotzdem konnte er diesmal die leise Hoffnung, dass er Emma treffen würde, nicht verbergen. Während er besonders gemächlich den Vorgarten durchquerte, schielte er immer wieder nach drüben auf das Nachbargrundstück. Nichts rührte sich. Also umrundete er das Haus, diesmal ohne zu klingeln, um gleich auf die Terrasse zu treten, wo sich seine Ahnung tatsächlich bestätigte.
Da saß sein Großvater in seinem Stuhl, die Beine hochgelegt, das karierte Hemd aufgeknöpft.
Die alten Finger umklammerten ein Glas mit festem Griff. Er drehte es hin und her, sodass es immer wieder auf dem Holztisch kratzte. Der bernsteinfarbene Single Malt schwappte dabei hin und her. »Willst du auch einen?«
Benjamin musste grinsen. »Einen Whiskey? Zum Mittag?«
»Dann nicht.«
»Nein, nein. Ich nehm schon einen.«
Sein Opa lächelte grimmig und schenkte das zweite Glas voll.
»Was isst du heute?«
»Ach, meine Nachbarin meinte wohl, ich könnte nicht mehr kochen.« Er klopfte auf die Armlehnen se ines Rollstuhls. »Im Kühlschrank steht ihr Gulasch.« Er sagte es immer noch bemüht abfällig, aber es gelang ihm nicht mehr ganz so überzeugend.
»Ihr versteht euch inzwischen?«
»Sie ist ’ne nette, anständige Frau«, bemerkte der alte Mann sachlich.
Benjamin schaute seinen Großvater staunend an. Wenn er daran dachte, wie verbittert er bei seinem ersten Besuch gewesen war, erkannte er ihn kaum wieder.
»Wie sieht’s denn bei dir aus? Hast du ein Mädchen, das du gerne magst? Ich hab dich mit der kleinen Enkelin von ihr gesehen.« Sein Kopf deutete hinüber zum Nachbarhaus. »Hübsches Ding. Nicht wie die meisten anderen, die man heute auf der Straße sieht.«
Benjamin errötete und nahm noch einen brennenden Schluck von dem Whiskey. Das vertrieb die Nervosität schnell. »Wir sind nur Freunde …«
»Sah für mich anders aus«, erwiderte sein Opa barsch.
»Wie sah es denn aus?«
»Es sah aus, als ob du auf die Kleine stehst. Bist doch sonst nicht so schüchtern. Du solltest sie ausführen. Ihr Jungs heute wisst doch gar nicht mehr, wie das geht. Als ich deine Großmutter kennengelernt habe, bin ich mit ihr tanzen gegangen. Sie war ein tolles Mädchen und glaub mir, das sage ich nicht nur so. Also ich bin hingegangen und hab ihr gesagt, dass ich mit ihr ausgehen will. Es gab da ’nen dollen Laden. Da haben sie die ganzen modernen amerikanischen Sachen gespielt. Kam nicht jeder rein. Waren ja schwierig, die Zeiten. Aber ich hab’s geschafft. Durchs Fenster hinten. Denk dir auch was aus. Zeig ihr, dass du was für sie übrighast.«
»Es ist nicht so einfach.«
»Stell dich mal nicht an.«
»Sie war mit meinem Freund zusammen, der im Sommer …« Diesen Satz hatte er nie ausgesprochen, seit es passiert war. »Mit Luka. Der, der tot ist. Sie war seine Freundin.« Jetzt
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