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Das Meer in deinen Augen

Das Meer in deinen Augen

Titel: Das Meer in deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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dass Benjamin erst darauf kam, als ihn der Mann, der neben ihm darauf wartete, in den Zug zu steigen, mit einem vielsagenden Blick bedachte.
    Trotzdem machte er keine besonderen Anstalten, schnell dranzugehen. Er suchte gemächlich, bis er das Handy schließlich in einer Innentasche seiner Jacke fand.
    Es war Emma. Eilig drückte er den grünen Hörer.
    »Ja?«, meldete er sich, während seine Fantasie begann, jede Möglichkeit durchzuspielen. Erwartungsfroh schlug sein Herz höher. Doch am anderen Ende blieb es lange still.
    »Emma?«, fragte er nach.
    »Ja.« Ihre Stimme war schwer. »Ich«, fing sie an und holte noch einmal Luft. »Ich bin bei meiner Großmutter gewesen. Ich … ich wollte gerade gehen.«
    »Was ist los?«, fragte Benjamin beunruhigt. Der Gurt seiner Tasche schnürte seine vorderen Fingerglieder ab.
    Die Frau von der Bahn sah ihn durch die offene Tür an und machte ihm deutlich, dass sie nicht auf ihn warten würden.
    »Dein Großvater. Sie holen ihn gerade ab. Ich glaube, es ist wieder ein Schlaganfall.«
    »Wollen Sie einsteigen?«, fragte die Dame vom Bordpersonal streng. Hastig schüttelte Benjamin den Kopf. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung und verließ stampfend den Bahnhof.
    »Bist du noch dran?«, fragte Emma. Sie wurde lauter, um den Lärm zu übertönen.
    »Ich komme«, keuchte Benjamin nur.
    »Ich warte auf dich.« Fast hätte er das Handy fallen lassen. Er stopfte es wieder in die Tasche, stürzte die Treppen hinunter und rannte Richtung Ausgang. Vor einer abfahrenden Straßenbahn stürmte er über die Straße und landete vor der Kühlerhaube eines Taxis.
    Er riss die Tür auf und ließ sich auf die Rückbank fallen. »Fahren Sie los«, schreckte er den verdutzten Fahrer auf, der sich zuerst einmal umsah. »Fahren Sie schon.«
    An jeder roten Ampel rutschte er hastig im Fond des alten Mercedes hin und her. Das zerschlissene Leder knarrte dabei. »Können Sie nicht schneller fahren?«
    »Will meinen Führerschein nicht verlieren«, raunte der Mann am Steuer mit jugoslawischem Akzent und kaute weiter auf seinem Tabak herum. Er schien jetzt erst recht keine Eile zu kennen. An der nächsten Ampel drückte Benjamin ihm einen Fünfziger in die Hand und sprang aus dem Wagen. Zu Fuß würde er schneller sein. Er nahm eine Abkürzung durch die Schrebergartenkolonie und sprang über einen Jägerzaun. Da stand er. Mitten auf der Straße. Er schnappte nach Luft und sah die Autos vor sich. Ein Polizeiwagen. Ein Notarztwagen. Wie auf Sardinien. Nur Blaulicht rotierte. Keine Sirene. Benjamin schleppte sich hinüber, seine Beine waren schwer wie Blei.
    »Zurückbleiben«, rief ihm ein Polizist aus der Ferne zu. Er ließ sich nicht aufhalten.
    »Er ist nicht tot, oder?«, keuchte er flehentlich.
    Die anderen Beamten drehten sich nach ihm um. Einer von ihnen trat aus der Gruppe heraus. Er brauchte gar nichts zu sagen. Es reichte, wie er langsam auf ihn zukam. Es gab keinen Grund zur Eile mehr, denn es war bereits zu spät.
    »Es tut mir leid, junger Mann. Sie dürfen hier nicht …« Er hob beide Hände beschwichtigend und winkte ihn zurück.
    »Ich muss zu ihm«, schrie Benjamin, aber seine Kehle schnürte sich schon zu. Die starken Arme hielten ihn zurück. Es konnte nicht sein. Bestimmt würde sein Herz wieder schlagen. Wie nach dem letzten Schlaganfall. Sie hatten wahrscheinlich noch nicht alles versucht.
    »Bleiben Sie zurück. Sie können nichts mehr für ihn tun. Sind Sie mit ihm verwandt?«
    Hastig nickte Benjamin, dann verkrampfte sich sein ganzer Körper. Gegen den Schmerz war er wehrlos. Die Polizisten lösten ihren Griff. Er sackte zusammen, wie damals am Strand.
    »Der zweite Schlaganfall in einer Woche, das kann schnell gehen«, murmelte einer der Rettungssanitäter. Türen wurden zugeschlagen.
    Mit dem Rücken gegen den Zaun kauerte Benjamin auf dem Gehweg. Diesmal keine Tränen. Nur Krämpfe. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, zischte er und biss die Zähne zusammen. Die Augen hatte er geschlossen. Erst als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, verstummte er langsam. Es war Emma. Ganz zaghaft strich sie mit den Fingern über seinen Rücken. Mit jeder Berührung wich der Schmerz langsam.
    »Es tut mir leid«, flüsterte sie und ließ die Hand sinken. Er wünschte sich, sie würde ihn in den Arm nehmen, ihn drücken. Wahrscheinlich war das zu viel verlangt.
    »Warum passiert das alles?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie ratlos.
    Die Beerdigung fand noch in derselben Woche

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