Das Meer in Gold und Grau
Ruth erklärte, wegen ihr müsse keiner bleiben, sie käme bestens alleine zurecht im Winter, damit hätte sie keine Probleme. AuÃerdem sei leer übertrieben. Letzte Woche sei Oberstudienrat Janssen mit Familie da gewesen, und die junge Frau Wördehoff habe krankheitsbedingt absagen müssen, sonst wäre sie Samstag mit ihrer Mutter angereist. Für die kommende Woche gebe es auch bereits Buchungen und zwei Anfragen, die auf Bestätigung warten.
»Ist ja auch schon Ende April, da kommen sie langsam. Aber vorher â¦Â«
»Wir haben Wintergäste. Denkt zum Beispiel an die Sturmtouristen, die bevorzugen uns vor den anderen Häusern.«
»Was sind Sturmtouristen?«, wollte ich wissen.
»Sie mieten sich bei Unwetterwarnung oder Sturmflut hier ein.«
»Ach, Spinner!«, schnappte Ania.
»Was ist mit Frank, dem Doc und den anderen? Was würden die ohne uns machen?«
»Sie würden eine Winterpause auch überstehen.«
»Aber manchmal kommen eben nette neue Gäste, für die eine geöffnete Tür auÃerhalb der Saison eine wichtige Sache ist, nicht wahr?« Dr. Gräter sah mich aufmunternd an, die
anderen schienen überrascht zu sein. Ich beschloss, ihn lieber nicht zu unterschätzen, und bestätigte: »Mit Sicherheit wäre ich verhungert. Und erfroren!« Der Alte nickte zufrieden. Dass er mir zuzwinkerte, mag ich mir eingebildet haben.
»Wir sind das ganze Jahr über da«, sagte Ruth, »das wissen unsere Stammgäste, und sie verlassen sich darauf. Deshalb bleibt es dabei: Wir halten das Haus warm und offen! Wer kommen will, trifft uns an. Das Café läuft ja auch weiter. Nächsten Mittwoch kommen vierzig Leute zum Geburtstagskaffee. Vierzig! Ist das nichts?«
»Die drei Mal im Jahr, wo so etwas bei uns stattfindet â¦Â«
»Der eine oder andere sucht vielleicht gerade das Besondere der friedlichen Atmosphäre, die das Hotel auÃerhalb der Saison bietet«, warf ich vorsichtig ein.
»Jawohl!«, sekundierte Heinrich. »Diese junge Frau hat ihren Verstand beisammen! Wo gibt es das denn heutzutage noch, eine Oase der Stille? Was der Welt fehlt ist Schweigen, Besinnung, Ruhe! Dieses kostbare Gut gilt es zur Verfügung zu halten. Ania kann den Winter über ja in Polen bleiben, wenn ihr der Betrieb nicht passt.«
»Die wenigste Ruhe hat man vor dir und deinem Geschwätz!«
»Heinrich, du wanderst das ganze Jahr am Strand herum und kümmerst dich sonst um nichts, aber versuch mal mit Ruhe und Frieden die Heizkosten zu begleichen«, sagte Elisabeth, »oder das Dach flicken zu lassen. Ich bin nicht dafür, auÃerhalb der Saison zu schlieÃen, aber von wegen kostbares Gut: Wir brauchen Umsatz! Ruhe klingt nach Stillstand, nach Aufgeben. Ich bin froh, wenn endlich wieder Mai ist, noch besser: Juli.«
Ruth lachte, schlug ihr auf den Rücken. »Halt aus, meine
Beste, bald geht es los, und deine Ruhe ist hin. Schon Dienstag wirst du den ganzen Tag backen und nicht wissen, wo dir der Kopf steht.«
Elisabeth verzog das Gesicht.
»Und den Rest der Woche werden wir weitgehend leere Tische haben. Wo sind sie denn, unsere Stammgäste? Auf dem Friedhof sind sie, jedenfalls die meisten. Jedes Jahr werden es mehr. Also: weniger.«
Ruth kniff die Brauen zusammen, senkte den Blick, griff erneut in ihren Tabaksbeutel, zog ein Blättchen aus dem Heft und drehte eine Zigarette, die so fest und dünn war, dass ich mich fragte, ob sie überhaupt brennen würde. Sie steckte sie zwischen die Lippen, schob sie von einem Mundwinkel in den anderen, während sie missmutig erst in der rechten, dann in der linken Hosentasche wühlte und »Feuer!« fauchte, als hätte sie »Schnauze!« gemeint.
Alle starrten sie an, aber Ruth straffte sich sofort, hob das Kinn und wischte mit der Hand quer über den Tisch. »Was redet ihr da für einen Mist? Alle beerdigt, so ein Schmarrn! Leute sterben, na und? Aber seit wir hier sind, sind noch immer neue Gäste gekommen. Von manchen Familien schon die dritte Generation. Mag ja sein, dass unsere gröÃten Zeiten vorbei sind, aber das ist kein Grund, nur noch schwarzzusehen.«
Sie räusperte sich: »Und hat jetzt endlich mal jemand Feuer für mich, verdammt!«
Ich kramte hektisch mein Feuerzeug hervor und hielt ihr eine Flamme hin. Die Zigarette brannte tatsächlich, und Ruth lächelte mit einem
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