Das Meer in Gold und Grau

Fall!«
    Ich hielt die Luft an, fand mich unsäglich, aber sie lachte laut, erhob ihr Glas und sagte: »Wenn das so ist: Lass es dir schmecken!«
    Ich bedankte mich, wiederholte, wie leid es mir tue, aber Ruth unterbrach mich mit der Weisung, den Entschuldigungs-Quatsch jetzt zu lassen, der ändere auch nichts. Sie hielt mir ihre Hand hin, ich schlug ein.
    Â»Sergej, ist noch Gulasch da?«, rief Elisabeth fröhlich. In der Küche schepperte es.
    Der Alte aus der Ecke kam zu uns an den Tisch geeilt: »Darf ich mich vorstellen: Doktor Heinrich Gräter, Gast im Hause, sehr erfreut!«
    Â»Gast im Hause«, fauchte Ruth, während er sich über meine ausgestreckte Hand beugte und allen Ernstes einen Kuss darüber hauchte. »Du wohnst hier seit sieben Jahren, Mann!«
    Â»Wenn Sie etwas über die Tier- und Pflanzenwelt der Ostsee erfahren möchten«, setzte Gräter ungerührt fort, »wenden Sie sich getrost an mich, Fräulein Katia. Ich helfe gern und darf als Fachmann gelten. Eine kleine Strandführung gefällig? Nach Absprache geht das auch außerhalb der Saison. Zu Ihrer Verfügung.« Fräulein Katia war sich nicht sicher, wie dieses Angebot einzuordnen sei.
    Elisabeth schüttelte den Kopf, drückte den Alten auf einen Stuhl und schob ihm meinen halb gefüllten Brotkorb zu. »Iss mal was, Heinrich.«
    Â»Oder sind Sie eher historisch interessiert? Da darf ich von mir behaupten, besonders kompetent Auskunft …«

    Â»Essen!«
    Ania kam herein, diesmal ohne ihren Putzwagen, nannte Heinrich einen alten Schwätzer und küsste mich auf beide Wangen, als sie von Ruth gehört hatte, wer ich war. Sie strich mir übers Haar, nannte mich »so ein lieber Besuch« und sagte feierlich: »Wir halten alle zusammen hier, wie eine Familie!« Dass Ruth »nu mal langsam!« fauchte, ignorierte sie und stellte sich und ihre zurzeit abwesende Schwester Bascha gleich mit vor: »Drei Kinder, vier Enkel, Bascha hat eins mehr. Wir machen sauber, abwechselnd: Ich drei Wochen, Bascha drei Wochen, da haben wir Zwischenzeit für die Enkel. Nur in Sommerferien müssen beide kommen, aber manchmal bringen wir Kleine mit. Ist viel Arbeit im Sommer und immer überall Katzenhaare, ich sage dir: Ka-tas-tro-phe!« Das Ende ihrer Tirade verklang in einer Bemerkung Heinrichs, dass die Ostsee, erdgeschichtlich betrachtet, ein Säugling sei.
    Â»Bei einer Führung könnte ich vielleicht Näheres dazu ausführen …«
    Ich versuchte beide mit einem interessierten Lächeln zu bedenken und beobachtete möglichst unauffällig das Mienenspiel der Schwester meines Vaters, die zu meinem Erstaunen damit beschäftigt war, sich eine Zigarette zu drehen.
    Â»Ich habe das nie hinbekommen«, brachte ich in einer Pause unter, die Heinrich benötigte, um sein Glas zum Mund zu führen, während Ania sich unaufgefordert einschenkte.
    Â»Ist keine Kunst«, murmelte Ruth ohne aufzuschauen.
    Sie hatte kleine Hände, eine runzelige Kindergröße mit Altersflecken, vom Spülen gerötet. Niemand hätte beim Anblick der dünnen Finger vermutet, zu welch hartem Griff sie fähig waren.
    Noch immer lief diese Musik, jetzt sang er auch noch, Chet
Baker. Die Ruine eines Gesichts auf dem Plattencover in der Hand meines Vaters tauchte vor mir auf, Papas geschlossene Augen zwischen den riesigen Ohrenschalen seines Kopfhörers. Er lächelte und summte leise vor sich hin, zwei Tage nachdem Mama endgültig gegangen war. The last great concert. Ich hatte ihn gleichzeitig schütteln, anbrüllen und umarmen wollen und nichts von alldem getan. Einmal in seine kleine Spezialwelt abgetaucht, war er vor Übergriffen jeglicher Art in Sicherheit, mein armer alter Papa. Als Kind hatte mich das verwirrt, als Jugendliche geärgert, heute beneide ich ihn darum.
    Ich sollte ihm Bescheid geben, dachte ich, das würde ich auch, aber dafür war morgen noch Zeit oder übermorgen oder Montag oder so. Ich musste ihm nicht das Wochenende mit der Nachricht verderben, dass ich wieder einen Job losgeworden war und er damit rechnen konnte, mich nur deshalb bei sich auftauchen zu sehen. Wenn ich mich nach einer neuen Stelle umgeschaut hätte, wäre ich auch in einer besseren Ausgangsposition, um ihm zu erzählen, dass seine Schwester mir die Hand geschüttelt hatte. Und wer wusste schon, was sich sonst noch ergeben