Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
Clans, ihres Stammes hinaus kooperierten. Sie trafen sich vielleicht heimlich mit Mitgliedern des anderen Stammes. Trieben irgendwann Handel statt Krieg. Kommunizierten mit Fremden, obwohl dies dem Kodex widersprach. Und trugen so letztlich zum Wohlstand bei. Die Systemtheorie zeigt uns, dass dies auch in Zukunft so sein wird, nicht trotz, sondern wegen aller Rückschläge, die zu erwarten sind.
Komplexität und Krise
»Seit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies stellt die Krise und nicht die Routine den Normalfall menschlichen Lebens dar«, sagt der Soziologe Bruno Hildenbrand. Der Begriff »Krise« ist in unserer Wahrnehmung mit einer natürlichen Stressreaktion verbunden. Wenn sich Dinge in unkontrollierbarer Weise verändern, schütten unsere inneren Alarmsysteme Substanzen aus, die uns kampf- oder fluchtbereit machen. Aus der Sicht der Komplexitätstheorie bedeutet »Krise« jedoch etwas völlig anderes als im
üblichen Sprachgebrauch. Krisen sind Störungen, die Anreizimpulse in Richtung höhere Komplexität setzen. Die » Krise Europas« zum Beispiel ist ein Hinweis darauf, dass etwas am europäischen Integrationsprozess nicht stimmt. Man kann Europa entweder weiter und wahrhaft integrieren oder es dekonstruieren. Dem Prinzip der Evolution, auch der sozialen Evolution, ist es letztlich »egal«, welche Lösung sich durchsetzt (Dekonstruktion heißt immer auch: neues Spiel, mögliche neue Komplexität).
Der Kapitalismus – ich bevorzuge den Terminus Marktwirtschaft, obwohl auch der nicht immer der Realität entspricht – hat in seiner Geschichte unzählige Krisen erzeugt, die Teil seiner Komplexitätsentwicklung sind. Kapitalismus ist ein lernendes, offenes System, oder sagen wir, er kann es zumindest sein. Entscheidend ist, dass wir Krisen auf andere Weise zu lesen lernen.
Nehmen wir die Aufstände in der arabischen Welt seit 2011. Nur wenige Ökonomen oder Politiker sahen diese Prozesse voraus. Existierten nicht in Ägypten, Libyen und anderen arabischen Ländern seit vielen Jahrzehnten stabile politische Systeme, traditionell geprägt, mit einem Patriarchen an der Spitze, der im »Besitz der ganzen Herde« ist? Dass diese Systeme kleptokratische Züge aufwiesen, fiel nicht weiter auf. Die nordafrikanischen und arabischen Gesellschaften wirkten stabil, weil ihre Autoritätsstrukturen historisch gewachsen waren.
Von innen her hatte sich diese Kultur jedoch längst verändert. Die allmähliche Integration der Maghreb-Länder in die globale Wirtschaft, moderne Medien, das rapide Sinken der Geburtenraten (in Tunesien und Iran deutlich unter die Reproduktionsrate) führten zu einem Bruch innerhalb der islamischen Gesellschaften. Herrschaftssystem und Soziokultur passten von einem bestimmten Punkt der Entwicklung an nicht mehr zusammen. Die Megatrends der Individualisierung, der Feminisierung, der Konnektivität transformierten die Gesellschaft, während die Regimes in den alten Strukturen verharrten. Der Druck im Kessel stieg.
Das Prinzip der »Komplexitätsdissonanz« (»complexity mismatch«) findet sich in der Logik aller ernsthaften Krisen – politischen
wie sozialen, persönlichen wie technischen. Das »Gesetz der erforderlichen Variabilität« (»Law of Requisite Variety«; der Begriff stammt von John Casti) besagt, dass das regelnde System mindestens so komplex sein muss wie das »geregelte«. Dies erklärt zum Beispiel den Verlauf des Atomunglücks von Fukushima. Nicht nur die technischen Systeme waren unterkomplex und versagten angesichts von Erdbeben und Tsunami, auch die Managementsysteme erwiesen sich als überfordert.
Wenn wir nüchtern die Lage begutachten, müssen wir eingestehen, dass es vor allem die Brüche sind, die uns in Richtung Zukunft bewegen. Im Kleinen wie im Großen. Erst das Nicht-mehr-Funktionierende forderte uns zu komplexerem (koordinierterem, strategischerem, »intelligenterem«) Verhalten heraus. Ob aus der Krise Katastrophe oder Komplexität erwächst, aus der kaputten Kindheit große Leistung oder großes Verbrechen folgt, ist nicht immer vorhersehbar. Aber auf lange Sicht, im evolutionären Maßstab, ist die Wahrscheinlichkeit des Komplexitätsgewinns größer. Aus Millionen von »Spielen« selektiert die Geschichte immer wieder einen kleinen, aber entscheidenden Strukturvorteil. Dahinter steckt ein weiteres, tiefes Geheimnis der Komplexität: das Wunder der Emergenz.
Emergenz und Resilienz
Emergenz benennt einen Aspekt komplexer Systeme, den man auch als
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