Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
»lebendige Robustheit« oder »adaptive Kreativität« übersetzen könnte. »Emergenz«, schreibt die Systemwissenschaftlerin Sandra Mitchell, »bedeutet, dass die Wechselbeziehungen zwischen den Einzelteilen zu neuen Eigenschaften führen können, die keines der Einzelbestandteile besitzt.« 11 Den Forschungen des dänischen Systemphysikers Per Bak und anderer zufolge entstehen Veränderungen innerhalb solcher Systeme spontan. Bak sprach von »selbstorganisierter Kritikalität«, um zu beschreiben, dass die Veränderung nicht vorhersehbar ist, und er verdeutlichte es am Beispiel des Sandhaufens: Wenn Sandkorn auf Sandkorn auf einen Sandhaufen gestreut wird, tritt irgendwann ein Zustand der »akkumulierten Veränderungsbereitschaft« auf. Das nennt man »Kritikalität«. Jedes
zusätzliche Sandkorn erhöht dann die Wahrscheinlichkeit, dass eine ganze Kaskade von Sandkörnern ins Rutschen gerät. Instabilität ist also nicht nur das Resultat, sondern die Bedingung für Komplexität. Leben existiert in jenen Zuständen, in denen der Sandhaufen bereits rutscht oder ins Rutschen kommen kann. »Die Welt tendiert weder dazu, völlig zufällig noch völlig statisch zu sein – sie existiert zwischen diesen Zuständen«, schreiben die amerikanischen Systemwissenschaftler John H. Miller und Scott E. Page in ihrem Buch »Complex Adaptive Systems«. 12 Per Bak selbst zog aus seinen Forschungen folgenden Schluss: »Wenn diese Erkenntnisse wahr sind, dann müssen wir akzeptieren, dass Instabilität und Katastrophen unvermeidlich sind – in der Biologie, der Geschichte, der Ökonomie. Wir müssen auch alle Vorstellungen langfristiger Voraussagbarkeit und Determiniertheit überwinden.« 13
Emergente Systeme kennen also nicht einen zentralen Kontrolleur. Sie lassen sich auch im eigentlichen Sinne nicht »steuern« oder »kontrollieren«. Sie können sich, und das unterscheidet sie eindeutig von mechanischen Prozessen, spontan reorganisieren. Das heißt nicht, dass Komplexität prekär, flüchtig und unaufhörlich vom Zerfall bedroht ist – eine Art unnatürliche Pestbeule an der »natürlichen« Ordnung des Einfachen. Sie ist vielmehr eine im Verlauf der Evolution herausgebildete Robustheit gegenüber Veränderungen. Eine andere Beschreibung dafür lautet: Resilienz.
Das lateinische Verb »resilire« bedeutet abprallen, zurückspringen. In der Werkstoffkunde benennt es die Eigenschaft elastischer Materialien, ihre ursprüngliche Form wiederzuerlangen. Schon Anfang der siebziger Jahre benutzte die Entwicklungspsychologin Emmy E. Werner den Begriff, um zu erklären, warum manche Kinder, die unter widrigen Umständen aufwachsen, dennoch später zu gesunden und selbstbewussten Persönlichkeiten heranreifen. Seither forschen Psychologen daran, welche Faktoren zusammentreffen müssen, damit Menschen nicht an Trauma- und Krisensituationen zerbrechen. Aber längst hat der Begriff seinen Weg in die umfassende Systemforschung gefunden. Resilienz ist heute ein Thema, das die Stadtplanung betrifft, die Ökonomie, die Architektur,
Unternehmen, unser ganzes Kultursystem. Konferenzen zum Thema »Resilient Cities« fragen danach, wie es katastrophengebeutelten Städten wie Hiroshima, Banda Aceh oder New Orleans gelingt, sich wieder zu erholen. Die englische »Sunday Times« brachte 2010 eine Geschichte über die zehn »most resilient« Fußgängerzonen Großbritanniens, die sich dem Niedergang der Provinzinnenstädte entgegenstemmen. 14
Wenn wir Resilienz verstehen wollen, dürfen wir nicht auf modische Vernetzungsklischees hereinfallen. Vernetzte Systeme können sogar besonders instabil sein. Da in ihnen oftmals simple Verstärkungsmuster herrschen, kann sich das System hochschaukeln, bis es einen kritischen Bereich erreicht – und sich selbst zerstört. Börsencrashs und Wirtschaftskrisen entstehen durch unkonditional vernetzte, sprich opportunistische Marktteilnehmer. Firmen schlittern in den Ruin, wenn alle Führungskräfte die gleiche Mentalität haben. 15
Die Resilienz eines Systems – Organismus, Organisation oder Gesellschaft – besteht in einer Kombination von Differenzierung, Autonomie und Vernetzung. Zukunftsfähig sind Organisationen, in denen die einzelnen Subsysteme eine gewisse Selbststeuerungsfähigkeit aufweisen. Wenn wir unsere Zivilisation resilient machen wollen, wird es vor allem darum gehen, verfilzte Systeme zu vermeiden, in denen jeder Impuls sofort kaskadenhaft durch das ganze System hindurchwandert.
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