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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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bei Amalie Faller; nach dem Arbeitstag, den er über den Büchern der Vereinigten Stahlwerke verbrachte, trinken sie Cognac aus den Schwenkern, die er ihr zum Geschenk gemacht hat. Wieder besprechen sie, wie Vater am Ende des Jahres seine Frau und seinen Sohn verlassen wird, um mit Amelie Faller ein neues Leben anzufangen. Wieder schreibt Vater es in unmissverständlichen Worten in sein Merkbuch; die Zeit der Camouflage ist vorbei.

    Am 5. März stirbt Josef Stalin in seiner Datscha, Kunzewo bei Moskau, an den Folgen eines Schlaganfalls, 73 Jahre alt.
    »›Das Antlitz verfärbte sich‹, schrieb Swetlana, ›die Gesichtszüge entstellten sich bis zur Unkenntlichkeit, die Lippen wurden schwarz. In den letzten zwei Stunden erstickte er einfach . . . Die Agonie war entsetzlich, sie erwürgte ihn vor aller Augen . . . Offenbar in den letzten Minuten öffnete er plötzlich die Augen . . . Es war ein furchtbarer Blick, halb wahnsinnig, halb zornig, voll Entsetzen vor dem Tode.‹« 9
    So hatte Vater sein eigenes Ende vor Augen, verfärbtes, entstelltes Gesicht, schwarze Lippen. Im Bett von Charlotte Kosbab, Grillparzerstraße, Berlin-Steglitz. Unmöglich, das kommende Ende auch nur mit einem einzigen Wort im Merkbuch zu verzeichnen; die Schreibhand, die ganze rechte Körperhälfte ist ja gelähmt. So etwas, fürchtet Vater, droht dem Mann ab 60 Tag für Tag.
    Aber jetzt schreibt Vater in sein Merkbuch, Stalin ist tot. Die neue Erzählung, die er angesichts des 60. Geburtstags seinem Leben gibt, beinhaltet Amalie Faller, ebenso wie Charlotte Kosbab, ebenso wie die Weltgeschichte. Schluss mit dem persönlichen Geschäftsbericht für die Augen der großen Tiere (die nie einen Blick darauf werfen). Der Notizkalender ’53 ist ein richtiges Tagebuch und deklassiert seine Vorgänger als ausdrucksschwach und ohnmächtig. Warum soll der kleine Angestellte seinem Tagebuch am 5. März die Nachricht vorenthalten, Josef Stalin ist tot? Weil die Nachricht nur die großen Tiere was angeht?

    Es charakterisiert Mutter und Vater, dass sie Josef Stalin nicht für den Feind der Menschheit hielten, dessen Ende zu bejubeln sei. Hitler war der Feind der Menschheit, und Josef Stalin half ihn zu beseitigen, unter furchtbaren Opfern der sowjetischen Armee und der sowjetischen Bevölkerung. Und dann bildete Russland für Vater einen Sehnsuchtsort: Immer wieder erzählte er dem Sohn, wie gern er mal dorthin gereist wäre in seiner Jugend, die riesige Landmasse zwischen hier und dem Pazifik, als träumte er davon, sich darin zu verlieren – eine Inzestfantasie, sagt die Psychoanalyse, restlos eingehen in Mutter Erde –, wobei Vater merkwürdigerweise gleichgültig blieb gegenüber dem Sozialismus, den Stalin und seine Genossen mit solcher Grausamkeit in der Sowjetunion aufbauen wollten, wohlwollend gleichgültig.
    Vater verstand, könnte man denken, aufgrund seiner Arbeit genug vom Wirtschaftsleben, um den Erfolg des Sozialismus in der Sowjetunion zu bezweifeln.
    Aber damals waren die Ökonomen selber durchaus unsicher, ob der Sozialismus gelingen oder misslingen werde. Man lebe angenehmer in den Demokratien des westlichen Typs, so die verbreitete Meinung – aber wenn eine Gesellschaft, eine Nation sich heroische Aufgaben vornimmt, funktioniert die Diktatur weit effektiver – man erinnere sich an Nazideutschland, man betrachte die SU .

    »Kann der Sozialismus funktionieren? Selbstverständlich kann er es. Kein Zweifel ist darüber möglich, wenn wir einmal annehmen, daß erstens die erforderliche Stufe der industriellen Entwicklung erreicht ist und daß zweitens Übergangsprobleme erfolgreich gelöst werden können. Es kann einem natürlich bei diesen Voraussetzungen sehr unbehaglich zumute sein und ebenso bei den Fragen, ob die sozialistische Form der Gesellschaft voraussichtlich demokratisch sein wird und, – demokratisch oder nicht –, wie gut sie aller Wahrscheinlichkeit nach funktionieren wird . . . Aber wenn wir jene Voraussetzungen annehmen und diese Zweifel beiseite lassen, dann ist die Antwort auf die verbleibende Frage ein klares Ja.« 10

    Am 5. März schrieb Vater in das Merkbuch für ’53, behauptet unser Roman, der große Stalin, der Vater der Völker, ist tot. Denn seit der Großen Oktoberrevolution – da war er 24 – hing er den Bolschewiken in glühender Bewunderung an. Sie bauen die neue Welt, in der Gerechtigkeit herrscht, weil die Expropriateure expropriiert wurden; jedem nach seinen Bedürfnissen, jedem nach seinen

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