Das Merkbuch
Juni in sein Merkbuch, das in diesem Jahr Weltgeschichte ebenso enthält wie persönliche Geständnisse.
Am 16. Juni treten Bauarbeiter in der Ostberliner Stalinallee in den Streik, um gegen das erhöhte Arbeitssoll zu protestieren, und daraus entwickelt sich in den nächsten Tagen ein großer Aufstand gegen die sowjetische Herrschaft über Mitteleuropa. Westdeutschland erhebt den 17. Juni zu so etwas wie seinem Nationalfeiertag.
Das hat doch keinen Sinn, dachte Mutter angesichts der DDR -Ereignisse, wie Radio und Zeitung sie berichteten. Hoffentlich gibt es keinen Krieg. Dem Sohn, eben zehn Jahre alt geworden, imponierten die Aufständischen maßlos, sowjetische Panzer bekämpfen, indem man mit bloßer Hand Steine auf sie wirft, außer sich vor Wut. Er begann sich für die biblischen Geschichten zu interessieren, das Alte Testament; dies war die Geschichte von David und Goliath – aber statt David (dem Knaben, der DDR ) gewinnt Goliath (die Sowjetunion). Als Vater wieder mal nach Hause kam, war er sich am Abendbrottisch einig mit Mutter, dass vor allem, vor allem der Krieg in Europa zu vermeiden sei – und gleich empörte er sich wieder wegen des Bundeskanzlers, der den niedergeschlagenen Aufstand für die Wahrheit seiner Wiedervereinigungspolitik zeugen ließ, die er, tobte Vater, doch gar nicht verfolgte! Die deutsche Einheit hätten sie angeblich begehrt, die Aufständischen, unter der Führung von Konrad Adenauer! Nichts anderes!
Am 6. September findet die zweite deutsche Bundestagswahl statt. Die CDU / CSU gewinnt 45,2 Prozent, die SPD 28,8 Prozent, die FDP 9,5 Prozent, der Gesamtdeutsche Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten ( BHE ) gewinnt 5,9 Prozent, die Deutsche Partei 3,3 Prozent. Konrad Adenauer wählt der neue Bundestag am 8. Oktober erneut zum Bundeskanzler; am 20. Oktober hat er sein neues Kabinett gebildet, das alle Parteien außer der SPD tragen.
Ruth wählt CDU , schreibt am 8. September (unserem Roman zufolge) Vater in sein Merkbuch. Mit Toni Adler telefoniert, mein nächster Besuch in Schwetzingen; große Zukunftspläne. – Das Wahlergebnis schreibt Vater erst am nächsten Tag in den Notizkalender: Denn es dauerte bis tief in die Nacht, die Stimmen auszuzählen; Vater schlief längst in seinem Bett bei Klara Winkler, Berglenstraße, Stuttgart. Das Wahlergebnis kam am anderen Morgen aus dem Radio, im Frühstücksraum der Pension. Das bemerkte die frühe Bundesrepublik nur undeutlich, dass sie sich intensiv für das Verfahren der Parlamentswahl interessierte; die Verachtung, die der Bürger während der Weimarer Republik dem Parlamentarismus entgegenbrachte, Quatschbude, verschwand im Lauf der Jahre unmerklich; eine Verachtung, die in den Parteien, bei den Parteifunktionären der frühen Bundesrepublik selber noch weit verbreitet war. Das Problem am Dritten Reich war nicht die Diktatur als Staatsform – das Problem war der Diktator.
Wenn Mutter bei der Bundestagswahl 1953 CDU wählte, erklärt sich das aus der Freundschaft mit jener Tante, der das Haus am Wald gehörte, in dem Vater, Mutter, Kind zu einem so niedrigen Mietpreis wohnten. Sie waren keine Einheimischen in unserer kleinen Stadt, die Tante war keine Verwandte – Mutter folgte dem Konformismus, der Fremde, die kommen und bleiben, auszeichnet. Mutter wollte mit der Tante einig sein; CDU zu wählen erzeugte ein Zugehörigkeitsgefühl. Die Tante muss man der ländlichen Bourgeoisie zurechnen, die in den Espedisten, wie die Tante sie nannte, ihren natürlichen Feind sah. Versteht sich, dass der Onkel bis 1945 Mitglied der NSDAP war.
60 Jahre, schrieb Vater am 26. November triumphierend in sein Merkbuch – heißt es in unserem Roman, der das verlorene Merkbuch ersetzen soll –, stets kann man noch einmal von vorn anfangen. Dafür ist jetzt die Zeit gekommen. Genau jetzt.
Aber den ganzen Novembertag lang bleibt die Verwandlung aus. Dem Telefonat mit Toni Adler, einer gleichaltrigen Dame von betörender Sexualkraft, misslingt es, die Erregungswelle auszulösen, die den allgemeinen Umsturz bewirkt – dass Vater sogleich Telefonat Adler im Merkbuch verzeichnet, sogar die Niederschrift bleibt ganz ohne Folgen. Das Schreiben hätte doch unwiderstehlich dazu führen müssen, zur Entregelung aller Sinne . . .
Und so verliert Vater im letzten Monat des Jahres alles Interesse an seinem Notizkalender, der den Übertritt in ein anderes Leben hätte bezeugen sollen. Trotzdem, Mutter sollte das Büchlein nie zu Gesicht
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