Das Merkbuch
Fähigkeiten. Lenins Tod erfüllte Vater mit heißem Schmerz. Als Stalin den Verräter und Konterrevolutionär entlarvte, verfolgte Vater Trotzki mit seinem Hass und seiner Verachtung bis ins Exil. Die Produktionsschlachten, in die Stalin die Sowjetunion führte, erfüllten ihn mit Stolz. Dass die Schauprozesse, die großen Säuberungen der dreißiger Jahre, Unschuldige betrafen, hielt er für undenkbar, Stalin weiß, was er tut. Dass er mit Hitler einen Beistandspakt schloss, zeigte Vater das Genie des Generalsekretärs: So bereitete er listig den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg vor, der den barbarischen Hitlerfaschismus beseitigte und gleichzeitig die wohltätige Sowjetmacht bis tief nach Mittel- und Westeuropa hinein ausdehnte – nein, gar keine Freude, tiefe Trauer erfüllte Vater, als er die Nachricht vom Tod des großen Stalin empfing.
In unserer kleinen Stadt fand sich natürlich gar kein Wohlwollen für Josef Stalin und seine Sowjetunion. Vor allem fürchtete man, dass sie ihrerseits durch den Eisernen Vorhang brechen, mit der Roten Armee über die Elbe und die Werra setzen und Westdeutschland der DDR einverleiben werde. Der Tante, die das Haus am Wald besaß, wo Vater, Mutter und Kind 1945 Unterkunft gefunden hatten, bewahrte in ihrem Kleiderschrank, verborgen unter Wäschestücken, eine alte Armeepistole auf – verbotenerweise, alle Deutschen mussten nach Kriegsende unter Strafandrohung ihre Waffen abliefern –, um sich zu erschießen, wenn der Iwan unsere kleine Stadt besetzt. Lieber tot als rot. Was die Flüchtlinge in unserer kleinen Stadt über Stalins Armee erzählten, wie sie Ostpreußen, Schlesien, Pommern, Berlin, Mitteldeutschland eroberte, machte keinen Appetit auf den Kontakt, um das mindeste zu sagen. Und was man von den Angehörigen in Stralsund oder Dessau oder Erfurt über das Leben in der SBZ , in der DDR erfuhr – akuter Mangel an Nägeln, bitte, bitte eine ordentliche Portion Stahlnägel in das nächste Päckchen mit Liebesgaben nach drüben –, erweckte keine Sehnsucht nach der Wiedervereinigung im Zeichen des Sozialismus.
Dagegen überraschte die westliche Warenwelt mit immer neuen Wundern. Im März zeigt die Internationale Automobil-Ausstellung zu Frankfurt am Main den Messerschmidt-Kabinenroller, ein Mischwesen aus Automobil und Kraftrad, weder zwei noch vier Räder, sondern drei, und um einzusteigen, klappte man oben den Plexiglasdeckel auf wie einen Schädel. Der Sohn interessierte sich heftig für den Messerschmidt-Kabinenroller, er schien wie für ihn erfunden; wobei sein persönliches Exemplar die Räder spurlos einklappen und dann vom Boden abheben konnte, sodass er damit durch die Täler, über die Höhen und den schönen grünen Wald frei flottieren konnte, wie er später gern erzählte. Gelächter.
Am 2. Juni wird in Westminster Abbey, London, Elisabeth II . zur Königin von Großbritannien und Nordirland gekrönt, was das real existierende TV -System live übertrug. Mutter und Sohn bestaunten das Ereignis in einer winzigen Gemeinde (weiß der Teufel, wie Mutter zu dieser Gemeinde Zugang gefunden hatte) auf dem Fernsehgerät, das in einem Kavaliershäuschen auf dem Schlossberg stand (weiß der Teufel, wem das Gerät gehörte): Hier oben kommen die Strahlen, wie der Sohn sich das vorstellt – wie er später erzählt, Gelächter –, einigermaßen strack an (sonst krümmen sie sich, Gelächter, hilflos um die Erhebungen des mitteldeutschen Mittelgebirges herum). Das Geschehen erkennt man trotzdem nur mühsam auf dem kleinen Schirm mit den gerundeten Ecken; immer wieder Schneegestöber, wie man das damals nannte. Wie der jungen Frau die Tränen übers Gesicht laufen vor Erschütterung, als ihr der Erzbischof von Canterbury die Krone aufsetzt, das erkannte man genau erst in dem Dokumentarfilm über die Krönung Elisabeths II ., den der Sohn und die Tante im Kino in Kassel anschauten (oft begleitete der Sohn die Tante ins Kino). Doch kann der Sohn immer wieder erzählen, die Krönung der englischen Königin sei das erste Fernsehereignis seines Lebens gewesen, oben auf dem Schlossberg passenderweise, gleich neben dem Schloss – und wie heftig er es bedauerte, dass er nie zum britischen König gekrönt werden könnte, Gelächter. Den König wählt man nicht frei wie den amerikanischen Präsidenten. Die Abkunft bestimmt eine Person zum König, zur Königin, keine Volkswahl, die jeder Bürger gewinnen kann.
Die Konterrevolution marschiert, schreibt Vater am 16.
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