Das Merkbuch
bekommen, und auf die anhaltende Unantastbarkeit seiner Aktentasche und ihrer Gefache wollte Vater nicht unbegrenzt vertrauen – womöglich stöberte der Sohn, begierig auf Einzelheiten über Vaters Arbeit dort draußen, doch mal darin herum. So zerriss Vater das Merkbuch für 1953 in kleine Stücke und warf sie umsichtig, auf der Fahrt von Stuttgart nach Hause, aus dem Zugfenster.
Eben lasen wir einen Roman, in dem zweimal Kalender auftauchen. Einmal die Kalendersammlung des Vaters, seit mehreren Jahren tot: »Das Seltsamste an den Kalendern, die Clare auf dem Teppich ausgebreitet hatte, war die Menge der deutlich hervortretenden X , mit schwarzem Stift überall eingezeichnet. Jeder einzelne Tag jedes einzelnen Monats jedes einzelnen Jahres war methodisch ausgestrichen, und es fehlte kein einzelnes Datumsfeld, nicht einmal das für den letzten Dezembertag jeden Jahres. Der letzte ausgestrichene Tag war der 31. Dezember 1999, acht Tage vor Dads Tod.« Es verhält sich so, dass Clare und ihre Schwester gedankenvoll das verwaiste Elternhaus leer räumen.
»Hinter dem schwarzen X sah man Abkürzungen und kryptische Zeichen. Sie standen zwar nicht auf allen Datumsfeldern, aber jedes enthielt am unteren Rand eine kleine Zahl. Im Januar 1999 lauteten diese Zahlen 85, 84, 85, 86, 85 ½, 85 ½, 86, 86 ½ etc. Im frühesten Kalender, dem von 1981, lauteten die Zahlen im Januar 77 ½, 78 ½, 77, 78, 78 ½, 78 ½, 78 ½, 79 etc.« Die Schwester Clare bleibt nicht beim Rätseln stehen, sie findet eine Lösung. »Ich glaube, das ist Dads Gewicht. Stell dir das mal vor! Dad hat sich jeden Tag gewogen und darüber Buch geführt. Das haben wir nicht gewusst, oder?«
Das würde gut zu unserem Vater passen, dem Wirtschaftsprüfer: jeden Tag auf die Waage und das Gewicht notieren. Da hätten wir mit dem zwischen 1951 und 1963 kontinuierlich zunehmenden Körpergewicht von Vater die detaillierte Bilanz, wie sich das Fett der BRD entwickelt, der Traum eines Wirtschaftsprüfers.
Später entdeckt Nikki, die andere Schwester, in dem Roman die Kalender der Mutter (die soeben, was den Roman in Bewegung setzt, von einem Junkie ermordet worden ist). »Es war schmerzlich, das zu sehen. Moms Tage, Wochen nachzuvollziehen. Sie hatte allem Anschein nach in ihrem Leben ›viel zu tun‹ gehabt. Jeden Sonntag natürlich die Kirche. Sonntagabends gab es oft Termine, die ebenfalls mit der Kirche zu tun hatten. An den Montagen bis Freitagen wimmelte es von Abkürzungen, Kib (Treffen des Kirchenbeirats), SenS (Seniorenschwimmen im YMCA ), Bib (Bibliothek, wo Mom stundenweise in der Buchausleihe mithalf), Kr (Krankenhaus, wo Mom stundenweise im Souvenirladen verkaufte), HH (das Hedwig-Haus, eine Wohnanlage für betreutes Wohnen in Mt. Ephraim, wo eine von Moms betagten Kovach-Verwandten hingezogen war und wo Mom sie regelmäßig besuchte), Kub (Treffen des Kunstbeirats). Es gab diverse Initialen, die sich auf Freunde und Verwandte bezogen, meist Frauen in Mutters Alter, mit denen sie sich regelmäßig zum Mittagessen traf. Andere waren wiederum Kürzel für Arzttermine. Für Termine beim Friseur.« 11 So ähnelt der Kalender der Mutter im Roman denen unseres Vaters, das Genre des persönlichen Geschäftsberichts. Bloß dass diese Mutter, wie es der Frauenrolle entspricht, Kommunikation verzeichnet, Kirche bis Kunstbeirat; während unser Vater beinahe ausschließlich Arbeit notiert, Steg/Stuttgart, Spinnfaser/Kassel, Stromeyer/Mannheim. Die Kalender des Romanvaters dagegen könnten von Hanne Darboven stammen, der Künstlerin, die mit Kalendern, Tabellen, Listen gearbeitet hat. Jeden Tag, wenn er vergangen ist, durchstreichen, ein negativer Akt, das Nichts schreitet voran. Die Zahlen zeichnen die Gegenbewegung auf, das zunehmende Körpergewicht, die Positivität des Fetts.
Die Männerrolle seiner Zeit machte es freilich unserem Vater ganz unmöglich, einen solchen Kalender über sein Fett zu führen; er selbst hätte es unerträglich gefunden, unerträglich peinlich, dies Interesse am eigenen Körper. Kein Gedanke daran, es womöglich in Aufzeichnungen narzisstisch zu verdoppeln.
Dass Männer sich zeitlebens für ihre Körperschönheit interessieren und engagieren, das kam erst viele Jahrzehnte später.
Vaters Notizkalender 1954 – blaues Kunstleder, Goldschnitt, kein Lesebändchen – gehört zu einem neuen, zu einem bislang unbekannten Genre: Er ist ein Werbegeschenk. »Den Freunden unseres Hauses überreicht von Vereinigte Glanzstoff-Fabriken
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