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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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Bienen mit Autopilot, strategischer Bakterien im Schwarm. Da hätten die Alliierten schwer zu leiden gehabt unter dieser Art Volkssturm kraft Volksvermögen. Die Do-it-yourself-Bewegung holt den Endsieg nach.
    Süß schaut es aus, das Universalwerkstättengerät, vor allem in Aktion. Es gab mal einen Kinderfilm: Ein niedlich-staksiger Roboter mit Rehaugen funktioniert deshalb so glänzend, weil er gar kein Roboter mehr, sondern wirklich und wahrhaftig am Leben ist.

    Am 4. November wählen die USA zu ihrem 34. Präsidenten Dwight D. Eisenhower, Kandidat der Republikaner. Die Demokraten hatten gleichfalls um ihn geworben, als ihren Kandidaten für die Präsidentschaft: Praktisch der Sieger des Zweiten Weltkriegs, der Oberkommandierende der Alliierten Streitkräfte.
    Jetzt haben die Amis ihren Hindenburg gewählt, resümierte Vater verächtlich am Abendbrottisch. Kein blöder Vergleich, Hindenburg hätte doch als deutscher Oberkommandierender der Sieger des Ersten Weltkriegs werden sollen. Er ruinierte dann als Reichspräsident die Weimarer Republik. – Vater hing ebenso wie Mutter, die immer noch Roosevelt nachtrauerte, Adlai Stevenson an, dem Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei.
    Jedenfalls müsste man ab dem nächsten Jahr auf Harry S. Truman verzichten, den Mann mit dem Querbinder und dem Zweireiher, von dem Mutter so gern behauptete, Vater sehe ihm ähnlich. Wegen des Haarschnitts, Hinterkopf und Seiten geschoren, oben die Insel seitlich gescheitelt. So schaut gerade auch der Sohn aus; es beeindruckt ihn tief, dass der Präsident der Vereinigten Staaten das nicht auf Lebenszeit ist, dass jeder sich zur Wahl stellen und dabei gewinnen oder verlieren kann. Damals erwog er, wie er später immer mal wieder erzählt, selber mal als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu kandidieren. Gelächter.

    Vaters Notizkalender für 1953 fehlt.

    Vater ließ ihn verschwinden am Ende des Jahres, könnte man wieder eine Geschichte erfinden. Die ganze Zeit konnte er das Büchel vor Mutter verbergen; machte sie sich ans Ausbürsten seines Sakkos (einschließlich der Innentaschen), steckte er den Kalender in die Hose. War die zum Säubern dran, verschwand er in einer der zahlreichen Nebenfächer von Vaters Aktentasche. Sie war tabu für Mutter und Sohn. Niemand außer Vater durfte sich an ihr zu schaffen machen.
    Ohnedies verblieb diese Aktentasche im Besitz der Vater beschäftigenden Firma. Er musste die Tasche hüten als fremdes Eigentum. Als wäre sie ein Lehen, die Aktentasche, das vom Landesherrn nur auf Zeit an seinen Vasallen verliehen wird und von diesem mit höchster Sorgfalt zu behandeln ist, eine Sorgfalt, die dem Landesherrn die Loyalität des Vasallen beweist.
    Damals diskutierten die Soziologen ausgiebig über den Neofeudalismus, der die großen Betriebe des modernen Kapitalismus strukturiere, Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Herr und Knecht, wie sie die Adelsgesellschaft des Mittelalters charakterisierten.
    Die Aktentasche verkörperte die ferne Macht von Vaters Firma. In dieser Form – metonymisch – brachte er sie mit nach Hause, voller Papiere, Akten, Aufzeichnungen, die Vaters Arbeit dokumentierten, eine Arbeit, die normalerweise unsichtbar blieb (und hier, zu Hause, nur magisch präsent wurde). Ehrfurcht, Scheu war es, was Mutter und Sohn angesichts von Vaters Aktentasche empfanden. Wie gesagt, nie lernte der Sohn sich genauer vorzustellen, worin Vaters Arbeit bestand, wenn er die Bücher prüfte.
    60 Jahre wird er in diesem Jahr (Mutter 45, der Sohn 10). Noch fünf Jahre bis zur Rente; das Arbeitsleben zeigt seine Zeitgrenze, keinerlei Fantasien mehr, die sich auf die Karriere richten. Da kommt der Sohn nach vorn, bei dem sich bald entscheidet, ob er von der Volksschule, wie das damals hieß, aufs Gymnasium wechselt.

    Am 27. Februar unterzeichnet die Bundesrepublik in London ein Abkommen, nach dem sie sich bereit erklärt, die Schulden des Deutschen Reiches seit dem Ersten Weltkrieg zu übernehmen. Und Vater konnte am Abendbrottisch noch einmal erklären, wieso die Reparationen, die das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg an seine Gegner zahlen musste, die Weimarer Republik ruinierten. Wird dieses Londoner Abkommen, fragte Vater unter dem Einfluss politischer Ahnungen, den Untergang der Bundesrepublik einleiten?
    Aber wo ist Vater selber am 27. Februar?, könnte man unsere Geschichte fortsetzen. Fern vom häuslichen Abendbrottisch, in Frankfurt am Main, Vogelsbergstraße,

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