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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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Möglichkeiten: Dass eines Tages einfach alle DDR -Bürger geflohen wären und deshalb die DDR verschwände, konnte man als Lösung der deutschen Frage ausschließen. Und Stalins Idee, dass ein vereinigtes Deutschland neutral zwischen den Blöcken stehe – wie die Republik Österreich –, hatte die Adenauer-Regierung, hatten die Westmächte ja verworfen.

    Am 17. September verliert die CDU / CSU bei der Bundestagswahl ihre absolute Mehrheit, bleibt aber stärkste Partei im Parlament. Konrad Adenauer kann erneut zum Bundeskanzler gewählt werden; die SPD erringt 36,2 Prozent, mit Willy Brandt, Regierender Bürgermeister von Berlin, als Kanzlerkandidat.
    Vater und Mutter und Sohn waren furchtbar enttäuscht. Nach dem Bau der Mauer hätte es doch eine Wende geben müssen in der westdeutschen Politik, und Willy Brandt, eine Lichtgestalt wie Kennedy, hätte sie eingeleitet.
    Versteht sich, dass sich zum Mauerbau ebenso wie zur Bundestagswahl 1961 kein Wort im Notizkalender von Vater oder Sohn findet. Warum sollten sie was aufschreiben? Alle Zeitungen waren vollgeschrieben mit den Ereignissen. Was sollten sie hinzufügen?

    Das Merkbuch, das der Sohn 1962 verwendet, ist ein Werbegeschenk der AEG . Ein dünnes Büchlein, in braunes Plastik gebunden (kein Versuch, Leder vorzutäuschen), ärmlich. Der Kalender war wohl in ein größeres Mappengebilde eingesteckt (statt -geklebt wie bei Baur & Horn), das als Ganzes gewiss stärker imponierte als dies Büchlein.
    Die AEG wirbt mit einer einzelnen Seite für sich (wie Stromeyer), die Strichzeichnungen ihrer Verwaltungsgebäude in Berlin-Grunewald und in Frankfurt (Main)-Süd, Adressen und Telefonnummern zeigt.
    Nummern, die in ihrer Vielzahl den Kommunikations- und Medientheoretiker interessieren würden, Landesfernwahl, Ortsruf, Fernruf, Nachtruf, Fernschreiber, Drahtwort. So demonstrierte man Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft. Die Bundesrepublik verabschiedete sich von der stummen Machtdemonstration der großen Apparate, der Arkanpraxis ihrer Entscheidungen. 1962 erschien eines ihrer Grundbücher, Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, das sie, die Öffentlichkeit, als Strukturprinzip der Demokratie feierte (und zugleich für die Gegenwart ihr allmähliches Verschwinden diagnostizierte).
    Drahtwort, Lunchbeutel, Wickelschlacken, Kräuselzwirn.

    Die Seiten 5 bis 32 verwendet das Tagesmerkbuch, wie es sich selbst nennt, auf sorgfältige Adressenlisten sämtlicher AEG -Büros und -abteilungen, Fabriken und nahestehender Gesellschaften, wie es heißt, von Aachen bis zu den Volta-Werken in Berlin-Waidmannslust.

    Der Sohn macht wenig Gebrauch von seinem Merkbuch dies Jahr, viele leere Seiten. Der erste Eintrag findet sich am 2. Juni, Samstag, und lautet bei Walters. Am 6. Juni verzeichnet der Politiker eine Bezirkstagung in Rotenburg, die bis zum 9. Juni dauert. Gleich schließt sich eine Jahresversammlung an. Am 5. Juli ist der Ferienanfang verzeichnet, und am 6. Juni heißt es, Birgit kommt. Am 13. Juli bricht der Sohn nach England auf, um 4 Uhr, und kommt am 14. Juli um 1.30 Uhr in Bournemouth an. Es folgen keine täglichen Aufzeichnungen wie 1960. Am 23. Juli, Montag, schreibt der Sohn: Sonnabend, 8.30 Uhr nach Station Highbridge, 1.09 Uhr an – nachmittags vermutlich. Dann verzeichnet er, nach vielen leeren Seiten, am 10. August, Freitag, Rückfahrt von Bournemouth. Anhaltend Bleistiftschrift.
    Seine Beziehung zu Großbritannien – von Vater und Mutter gestiftet – festigt sich durch einen zweiten Aufenthalt.

    Der Politiker, der Liebhaber, der Reisende, was ist mit dem Poeten?
    Er verschaffte sich andere Gelegenheiten zum Schreiben, Einzelblätter, Hefte, Bücher. Der Füller, der Kugelschreiber, die Schreibmaschine. Seine Handschrift ist auf dem Weg der Festigung. Aber immer noch gezeichnet statt geschrieben.

    Am 2. Oktober, Dienstag, schreibt der Sohn: Meeting mit Christian Richter, Offenbach. Vom 6. Oktober bis zum 9. Oktober noch einmal Jahresversammlung, dann bleibt das Tagesmerkbuch bis zum Jahresende leer.

    Am 22. Oktober 1962 fordert Präsident Kennedy in einer Fernsehrede, dass alle Raketen samt ihren Abschussrampen, mit denen die Sowjetunion Kuba ausgestattet hat und die Angriffe auf die Vereinigten Staaten ermöglichen, abgebaut werden.
    Die Kuba-Krise steigerte die Kriegsangst, Todesangst ins Unermessliche. Wenn der Sohn morgens mit der Eisenbahn in sein Gymnasium fuhr, schlug er sich mit Befürchtungen herum, zur Rückfahrt komme

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