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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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Mutter, prüfte wieder mal die Bücher der Saarbergwerke in Saarbrücken, als er eines Morgens vollkommen die Kontrolle über seine Arbeit verlor. Er saß vor den Zahlenkolonnen der Bilanzen und verstand nicht mehr, was sie ihm sagen wollten. Ihm war ganz unklar, welche Arbeit sie von ihm forderten.
    Es dauerte naturgemäß eine Weile, bis er den Kollegen erklärt hatte, was mit ihm vorgefallen war; er wusste es selber ja nur ungenau.
    Zwei mal zwei ist vier. Was ist eigentlich zwei? Zweibrücken? Zweibrücken mal. Male. Was soll ich malen? Zwei? Habe ich doch schon gemalt. Ist? Ja, ist gemalt. Vier. Kathrin Vier.
    Ein jüngerer Kollege von Vater, erzählte Mutter, packte Vaters Sachen zusammen und setzte ihn in sein Auto und fuhr ihn quer durch Westdeutschland nach Hause. Poittevin hieß der junge Mann, erzählte Mutter, nie werde sie den Namen vergessen. Er war voller Erschrecken und Mitleid. Was einem so passieren kann im Alter.

    Das Familienalbum enthält noch einmal Fotos von einem Betriebsfest. Vater sitzt am Ende einer weiß gedeckten Tafel, mit Gläsern und Bestecken, mit Blumenschmuck. Die Mahlzeit scheint vorüber. Rechts von Vater sitzt ein schlanker Herr mit grauem, gescheiteltem Haar – strohig fest schaut es aus –, der, die Augen auf das Tischtuch gesenkt, mit der bekannten Besinnlichkeitsgeste an seinem Weinglas dreht. Rechts von ihm drei Herren, die sich angeregt redend einander zuwenden.
    Vater, die rechte Hand auf den weiß gedeckten Tisch gelegt, die linke im Schoß, schaut sinnlos ins Leere. Sehr viel dicker ist er geworden. Zu Anzug und weißem Hemd trägt er einen gestreiften Querbinder. Das Haar trägt er nicht mehr gescheitelt, vielmehr in einem so genannten Cäsarenschnitt, nach vorn in die Stirn gekämmt. Der Mund scheint ihm ein wenig offen zu stehen, was den Blödigkeitsausdruck steigert – man neigt dazu, den verlegen-besinnlichen Gesichtsausdruck des Weinglasdrehers zu seiner Rechten auf den Geisteszustand des Sitznachbarn zu beziehen, ebenso den strohig festen Scheitel auf dessen sinnlos-flotten Cäsarenschnitt. Man konnte nicht mehr mit ihm sprechen. Er verstand alles falsch und antwortete konfus. Wohlwollend hatte man ihn an das tote Tischende gesetzt, sodass er nur wenigen Kollegen unangenehm auffiel.

    Aber er konnte sich die Fliege binden! Der Querbinder war kein Fertigprodukt, das man unter den Hemdkragen knöpft. Und eine Fliege zu binden erfordert Intelligenz der Hände – dass Vater 1967 oder 1968 schwachsinnig geworden wäre, keine Erinnerung zeigt das unmissverständlich an. Vater sitzt in seinem Wohnzimmersessel und liest den Spiegel; das dauert die ganze Woche, bis am nächsten Montag der Spiegel wieder erscheint – es gab in diesen Jahren ja viel zu kommentieren am Mittag- und Abendbrottisch. Er arbeitete im Garten, den Rasen schneiden, mit der Maschine oder der Sense. Mehrmals machte er Ferien auf Helgoland, allein, ohne Mutter. Vielleicht war er bloß angetrunken bei dem Betriebsfest, als die Aufnahme geschossen wurde.

    Zurück ins Jahr 1961, zum Notizkalender des Sohnes. Er nutzt ihn anhaltend als Notizbuch, schreibt Adressen auf, Buchtitel. Peter Berghäuser, Frankfurt/Main, Hansaallee 122. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Reclam. Heinrich Dumoulin, ZEN , Sammlung Dalp, Francke, Bern, 14.40. Hartmut Hennings, Kassel, Weinbergstr. 20. Seine Aktivitäten als Schulsprecher: Schülerratssitzungen, Tagungen, Tanztees.
    Aber dann, am 13. Juni, verzeichnet der Sohn seinen Rücktritt als Schulsprecher; die neue Handschrift verläuft besonders krakelig.

    Eine genuin autobiografische Aufzeichnung. Damit ist der Sohn ja sparsam; Vaters Vorbild wirkt sich weiterhin aus, und bei ihm war Autobiografie tabu.
    Es gab einen Skandal, einen richtigen politischen Skandal. Die Jugendrevolte der sechziger Jahre sandte ihre Vorzeichen aus.
    Zu den wenigen vaterländischen Ritualen Westdeutschlands zählten Feierstunden, die des 17. Juni 1953 als des Tages der deutschen Einheit gedachten. Musik, Festreden, die Nationalhymne. So etwas findet der junge Mensch auf jeden Fall unerträglich peinlich; das Jugendalter verpflichtet sich seit dem Sturm und Drang dem unmittelbaren Ausdruck, dem Expressionismus, und lehnt Rituale als widerwärtige Entfremdung ab.
    Der Sohn saß neben der Chefredakteurin der Schülerzeitung. Gequält ließen sie die Musik und die Festreden über sich ergehen. Aber dann sollte das Publikum aufstehen und gemeinsam die Nationalhymne absingen, die dritte

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