Das Merkbuch
machte, wieder mindert. Und dann gab es ja noch das andere Schuldkonto, das aus dem Dritten Reich, dessen Bücher noch halbwegs geschlossen blieben . . . Worüber Vater so gern schimpfte und klagte am Abendbrottisch.
Vater arbeitet bis in den Mai hinein bei den Saarbergwerken. Und noch einmal von Ende August bis zu Weihnachten. Da schreibt er dann jeden Tag Saarbergwerke statt Saarbrücken.
1962 verbringt Vater seine Arbeitszeit ebenso bei den Saarbergwerken – er schreibt jeden Tag Saarberg. Am 19. März fuhr er um 13.55 Uhr zu Hause ab, stieg in Frankfurt um und kam um 21.49 Uhr in Saarbrücken an. Kein Eintrag, nirgends, in welchem Hotel, in welcher Pension er haust. Erst 1963, das letzte Jahr, das Vater von März bis Juli bei Saarberg verbringt, führt im Notizenfeld unter dem 9. März das Kolpinghaus, Saarbrücken III , Ursulinenstr. 67, 27081/82 auf.
1961 arbeitete Vater vom 24. Juli (Ankunft 9.36 Uhr, er musste früh aufstehen) an den Büchern der Aufbaugesellschaft Allendorf, Telefon 391. Der Auftrag trägt die Nummer F 4203. Vater logiert im Gästehaus Hahnenkrug, Allendorf bei Marburg/Lahn, Telefon 256.
Das Dorf Allendorf im Bärenschießen bildet seit 1960 zusammen mit dem ehemaligen Werksgelände der WASAG und der DAG , das die Aufbaugesellschaft zu einem neuen Ort ausgestaltete, Stadtallendorf. Die WASAG und die DAG produzierten im Zweiten Weltkrieg hier in größtem Umfang Munition und Sprengstoff, eine Produktion, die weitgehend geheim blieb, weshalb keine alliierten Bombenangriffe stattfanden. Das 600 Hektar große Gelände der Rüstungsfirmen verbarg lange Jahre chemische und andere Rückstände der Rüstungsproduktion, die immer wieder entsorgt werden mussten, während schon neue Wohnquartiere entstanden waren.
Ein Höllengestank, der die Spinnfaser in Kassel weit übertrifft, anhaltend die Wickelschlacken der deutschen Geschichte, das verbrecherische deutsche Kapital. In das Vater am Ende seines Arbeitslebens noch einmal gründlich eintaucht.
Am 11. April 1961 begann in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann.
»Der Saal wird kaum stiller. Fast niemand hat gesehen, wie er aus der Mauer in seinen Glaskäfig trat. Seine Bewegungen, die zugleich stramm und geschmeidig sind, verraten, daß er sein halbes Leben lang eine Offiziersuniform getragen hat. Im Vergleich zur Aufnahme vom vergangenen Jahr ist er gealtert. Er trägt einen dunklen Anzug und eine Brille. Zwei- oder dreimal schaut er mit unbeweglichem Gesicht in den Saal und dann überhaupt nicht mehr. Er sitzt links auf dem Podium des modernen Theatersaals, von sanften Neonlampen beleuchtet.« 26
Im Dezember 1961 folgt für Vater auf die Arbeit bei den Saarbergwerken ein Aufenthalt in Eiweiler/Saar; die Bücher der Sperrholz- und Furnierwerke GmbH, Telefon Heusweiler 6263 und 6266; Vater wohnt im Bahnhofshotel, Telefon 6475.
Die Bundesrepublik, möchte man wieder mal allegorisieren, konnte der deutschen Geschichte nur ein glänzendes neues Furnier aufleimen . . .
Vom 9. Dezember bis zum 23. Dezember 1963, also ganz am Ende, arbeitet Vater an den Büchern seines alten Freundes Kui, der in Kassel eine Firma betreibt, die er nach 1945 gründete, ein echtes BRD -Produkt. Vater schreibt wieder, wie ganz am Anfang, sein Mittagessen auf, 2.75 und 3.30 und 4.30; den Fahrpreis von Kassel nach Hause, erste Klasse und zweite, die Tagewerke. Wie er sie als freier Mitarbeiter seiner Firma zu berechnen gelernt hat. Am 26. November 1963 wurde er 70 Jahre alt.
Der Adressenteil des Treuarbeitskalenders 1962 – im Übrigen nutzte Vater für die Adressen ja den Kohlenstromeyer-Kalender, den er sonst vernachlässigte – enthält ganz wenige. Ausnahmsweise in der schönen Druckschrift, die Vater für seine Akten verwandte und für die er berühmt war unter den Kollegen.
Er hatte Zeit, er hatte wenig zu tun und vertrieb sich die Zeit mit Schreiben, mit Kalligraphie, indem er Adressen aus dem Stromeyer-Kalender abzeichnete.
Der Rest ist Schweigen, ja, keine Notizkalender mehr von Vater, kein einziger. Aber Vater arbeitete immer mal wieder in den folgenden Jahren für seine Firma bei den Saarbergwerken, bei Stromeyer, bei den Hommelwerken; für seinen Freund Kui. Aber dafür brauchte es keine Merkbücher mehr.
Der Zusammenbruch fand 1967 oder 1968 statt; der Sohn kriegte ihn viel später von Mutter erzählt. Er befand sich im Studium und in einer Liebesgeschichte und musste die Elterngeschichte in den Hintergrund drängen.
Vater, erzählte
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