Das Merkbuch
Strophe des Deutschlandlieds, Einigkeit und Recht und Freiheit, und das war zu viel. Der Schulsprecher und die Chefredakteurin der Schülerzeitung blieben sitzen.
Das schmerzte Vater und Mutter, das schmerzte heftig, dass der Sohn die so sorgsam angehäuften Sozialchancen in den Wind schlug mit diesem Akt des politischen Protests. Hierbei urteilte Mutter – wie es den Geschlechtsstereotypen entsprach – natürlich milder als Vater. Der aber wenig sagte, dafür traurig und bitter erstarrte; und anerkennen musste, dass der Protest des Sohnes seiner eigenen, so gern am Familientisch vorgetragenen Kritik an der westdeutschen Wiedervereinigungspolitik entsprach. Feierstunden statt praktischer Maßnahmen und Vereinbarungen. So erklärte man insgesamt die Protestbewegung der Sechziger, könnte ein Soziologe erklären: Die jungen Leute hielten sich an die kritisch-liberalen Ideen ihrer Eltern, denen die nur noch halbherzig folgten.
Es fällt auf, dass das Gymnasium auf alle drastischen Maßnahmen verzichtete. Klar, endlose Lehrerkonferenzen, heftige Einzelbefragungen der Missetäter; der Sohn musste als Schulsprecher zurücktreten, ebenso seine Freundin Mona, die Chefredakteurin der Schülerzeitung. Aber das war schon alles. Vor fünf Jahren, behauptete Mona genüsslich, hätten sie uns noch von der Penne geschmissen.
Die sechziger Jahre hatten begonnen. Die Institutionen begannen, ihre Regeln und Sitten zu lockern, den Widerstand gegen ihre rigiden Programme zu berücksichtigen.
Der Sohn fährt fort, seine politischen Aktivitäten einzutragen, Ende September: Jahrestagung in Heppenheim; Anfang Oktober: Nachwuchstagung; dann Bundesversammlung in Karlsruhe, wobei er für den entsprechenden Tag den Fahrplan einträgt: 12.22 Uhr ab Liebenzell (wo die Nachwuchstagung stattfand), in Pforzheim umsteigen, 13.36 Uhr an Karlsruhe. Mitte November Hofgeismar, Evangelische Akademie.
Worin immer diese politischen Aktivitäten bestanden, für sein Merkbuch folgt der Sohn genau dem Vorbild Vaters, dem Genre des Tätigkeits- und Geschäftsberichts.
Dabei spart er die schulischen Belange völlig aus. Keine Eintragungen über Unterricht, Klassen- und Hausarbeiten (wie 1956). Aber Gedichtzeilen, der alte garten / die wüstenei, die schritte / der sonne zugewandt / die blinden augen / sind schalen voll trauer. Und die Namen und Adressen von Mädchen: Jutta Turowski, Kassel, Parkstr. 47a; in fremder Handschrift: B. W. bei Wehage, München-Pasing, Kolonie II , Nürnberger Str. 12 . . .
Er inszeniert sich als Politiker, als Poet, als junger Mann, der sich für die Mädchen interessiert – den Gymnasiasten streift der Sohn ab im Notizkalender.
So schreibt es der Sozialisationsprozess vor; während der Gymnasiast noch von seiner Familie aus die Schule besucht, muss er langsam aufhören, bloß Familienmitglied und Schüler zu sein.
Am 3. Juni und 4. Juni 1961 trafen Chruschtschow und Kennedy in Wien zusammen. Chruschtschow präsentiert das so genannte Berlin-Memorandum: Westberlin soll eine entmilitarisierte freie Stadt werden (Abzug der Westalliierten). Am 25. Juli erklärt Präsident Kennedy, dass die USA auf der Anwesenheit der Westmächte in Berlin bestehen und die Westberliner Freiheit garantieren.
Westberlin bildete für DDR -Flüchtlinge das offene Tor nach draußen. Man brauchte in Ostberlin nur in die S- oder U-Bahn zu steigen (die Kontrollmaßnahmen auf den entsprechenden Ostberliner Bahnhöfen griffen schlecht). Anfang Januar meldeten die Westberliner Behörden, zwischen Weihnachten und Neujahr seien 2820 DDR -Bürger eingetroffen. Am 9. August 1961 meldeten die Westberliner Behörden 1926 Flüchtlinge, die bislang höchste Zahl für einen einzigen Tag. Am 13. August beginnt die DDR mit dem Bau der Mauer, die Westberlin einschließt und den Flüchtlingsstrom kupiert.
Merkwürdigerweise nahmen weder Vater noch Mutter noch Sohn den Mauerbau in Berlin als grässlichen Schicksalsschlag, Steigerung der Todesangst, Kriegsangst, die sie schon so lange begleitete. Vielmehr als grässliche Form der Befriedung. Hätte man sich die Alternative wünschen sollen, dass die SU Westberlin besetzt?
Wie Vater oft genug erklärt hatte in den vergangenen Jahren, würde die Sowjetunion niemals die DDR als ihren westlichen Außenposten aufgeben – und nichts anderes verlangte doch die Bundesrepublik, der Westen, von ihr. Die Begeisterung, mit der im Westen die Flüchtlingsströme gemeldet wurden, täuschte über die praktischen
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