Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
mir, dass nicht ich diesen Bildern die Tür öffnete, sondern jemand anders.
Das Bild eines jungen Mädchens, das mir gegenübersitzt. Sie trägt ein Kabel mit winzigem Lautsprecher im Ohr. Das Kabel endet in der halb geöffneten Handtasche von
Esprit
. Der Zug ist voll besetzt, aber das Mädchen achtet nicht darauf, redet laut und blickt ausdruckslos vor sich hin. Sie redet lange, mit metallischer Stimme. Dabei sitzt sie ungewöhnlich aufrecht. Die Tasche steht auf ihrem Schoß wie ein Gegenstand, der herabfallen und entzweigehen könnte. Die Henkel reichen ihr fast bis zum Mund, so dass es aussieht, als ergössen sich ihre Worte direkt in die Handtasche. Dann beendet sie das Gespräch, zieht das Kabel aus dem Ohr, entnimmt der Tasche das Mobiltelefon, schaltet es aus, vergräbt es im unsichtbaren Sand ihrer Worte und zieht ordentlich den Reißverschluss zu.
Das Bild eines dunkelhäutigen Jungen, der sich in ein Holländischlehrbuch für Ausländer vertieft hat und auf seinem Stift herumkaut wie auf einem Gummibonbon. Jeden Augenblick nimmt er den Stift aus dem Mund und unterstreicht Vokabeln. Dann legt er kurz das Buch ab, dreht den Kopf zum Fenster, murmelt etwas vor sich hin, unterstreicht die Vokabeln im Geist und wendet sich wieder dem Buch zu.
Das Bild eines jungen chinesischen Pärchens. Beide mahlen in synchronem Rhythmus ihren Kaugummi. Ihre Gesichter sind grau wie die von Mäusen. Sie trägt eine nicht übertrieben saubere dünne Bluse, darunter magere Brüste ohne BH . Der junge Mann umarmt sie, weiterhin kauend, greift in die Bluse und spielt träge mit ihrer Brustwarze. Sie kaut unberührt weiter und blinzelt mit den pupillenlosen Augen.
Das Bild einer müden marokkanischen Madonna mit dem Knaben auf dem Schoß. Er ist nicht älter als zwei Jahre, hat dichtes dunkles Haar, gescheitelt wie bei einem erwachsenen Mann. Das Gesicht des Jungen hat etwas erschreckend Unkindliches wie auf alten Ikonen.
Bei einer meiner Fahrten blieb der Zug plötzlich stehen. Auch ein entgegenkommender Zug hielt an. Im Fenster des Nachbarzuges erblickte ich einen Mann. In einer Hand hielt er ein Notenblatt, mit der anderen dirigierte er. Er war ganz erfüllt von der inneren Musik, dirigierte mit kurzen, zarten, zurückgenommenen Bewegungen. Ich betrachtete ihn wie verzaubert. Sein Gesicht strahlte innere Erregung aus. Die Außenwelt existierte für ihn nicht. Dann setzten sich beide Züge in Bewegung, und das Gesicht des Mannes verschwand. Ich spürte einen kleinen Stich, als hätte ich mich selbst in der Fensterscheibe erblickt. Nur hören konnte ich mich nicht. Mir war, als fahre mein Spiegelbild in die entgegengesetzte Richtung davon.
Wenn ich durch die Stadt streunte, konnte ein harmloses Detail plötzlich einen nahezu unwiderstehlichen körperlichen Drang bei mir hervorrufen. In der Straßenbahn an einen nackten, glatten Männerarm gepresst, überkam mich der Wunsch, meine Lippen auf die goldfarbene fremde Haut zu drücken. Oder wenn ein Mitfahrer einen Ohrring trug, hätte ich ihn am liebsten mit den Zähnen herausgerissen. Die Kraft dieses überraschenden Drangs erschreckte und befreite mich zugleich. Wovon? Ich wusste es nicht.
Die innere Karte der Stadt zeichnete sich von selbst. Die Bilder gingen vorüber, gingen weg, zogen in mich ein oder zerrannen wie Sand, und alles glich einem Spaziergang im Nebel oder im Traum. Die innere Karte zeichnete sich auf dünnem Durchschlagpapier ab. Wenn ich von der realen Karte aufsah, konnte mich die Leere verblüffen. Auf meiner Karte war nichts, absolut nichts. Manchmal rührte mich eine Linie, die rasch voranstrebte, aber dann unterbrochen wurde. Manchmal glich der innere Stadtplan einer ungeschickten Kinderzeichnung.Die Stadt, die an eine Schnecke erinnerte, eine Muschel, eine Spinnwebe, ein Labyrinth, ein Spitzendeckchen, einen Roman voller geheimnisvoller Nebenstränge, verwandelte sich auf meinem inneren Plan in weiße Flecken, Leerstellen, Fragmente, Sackgassen. Meine innere Karte war das Ergebnis der Bemühungen eines Gedächtnislosen, seine Koordinaten einzuzeichnen, der Bemühungen eines Strandwanderers, Spuren im Sand zu hinterlassen. Meine Karte war ein Führer für Träumer. Kaum etwas darauf stimmte mit der Realität überein.
In einem war ich mir dennoch sicher. Wohin ich auch ging, meine Studenten gaben die Richtung an. Sie waren mein inneres Zentrum, der zentrale Platz, die Hauptstraße, die Pulsader, und zwar buchstäblich.
6.
Dann sehen wir, dass hier
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