Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
entschärft, aber Ruhe ist eingekehrt. Das Leben geht weiter und meint es vorerst gut mit allen.
Vor dem Haager Tribunal wird eines Tages auch der Hauptschuldige erscheinen, und ich werde hingehen, ihn zu sehen. Er wird einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine grellrote Krawatte tragen. Die Farbe der Krawatte wird mit der Farbe der Roben der Richter identisch sein. Der Angeklagte mit den fest aufeinander gepressten Kiefern und mit dem Mund in Form eines umgekehrten U wird in einem Glaskäfig sitzen. Die Uhren werden die Zeit anzeigen, aber sie wird nicht mit der Zeit außerhalb des Gerichtssaals übereinstimmen. Verblüfft werde ich feststellen, dass ich in wenigen Jahren alles vergessen habe und mich kaum an die Namen der Menschen erinnere, die mit unseren Leben gespielt haben. Es wird mir vorkommen, als seien seit dem Beginn des Krieges hundert und nicht erst zehn Jahre vergangen. Tief entsetzt werde ich mit einem totalen Vergessen konfrontiert sein. Der Mann mit der roten Krawatte wird eine Sprache sprechen, die ich nicht mehr verstehe. Ein Detail wird sich mir einprägen. Beim Blättern in der Akte wird der Angeklagte nämlich seinen Zeigefingerlecken wie ein Dorfkrämer. Er wird den Kopf heben, als wolle er die Luft schnuppern, und dabei blinzeln. In einem Moment wird er zum Publikum hinter der Glaswand schauen, und unsere Blicke werden sich kreuzen. Seiner wird finster, stumpf und ausdruckslos sein. Mit den aufeinander gepressten Kiefern und dem stumpfen Blick wird er mich an einen Eisbären erinnern. Dann wird er seine Tatze heben, eine unsichtbare Fliege vor seiner Nase vertreiben und weiter stumpf vor sich hin starren.
Manchmal meine ich, sogar Uroš’ Wahl war gut. Er hat Bleistifte, Schreibblocks und Samtkipas mitgenommen, für jeden Tag der Woche eine. Morgens putzt er sich die Zähne mit einer der Zahnbürsten, das Gesicht zur himmlischen Klagemauer gerichtet, falls die Dinge dort oben so organisiert sind. Er schwitzt wie ein Buchhalter, schreibt seine Beschwerden und Bitten auf kleine Zettel, die er zusammenrollt und in die Spalten zwischen den Mauersteinen steckt.
Aus dem, was mit uns allen geschehen ist, kann man auf dreierlei Arten hervorgehen: als ein besserer Mensch, als ein schlechterer Mensch oder wie Uroš mit einer Kugel im Kopf, sagte Igor. Ich weiß nicht, wie es um mich bestellt ist, fest steht nur, dass ich der Kugel entkommen bin.
Ich hatte Darko verschwiegen, dass ich über Igor mehr wusste, als was er mir bei unserer zufälligen Begegnung auf dem Strand bei Wassenaar erzählte. Meine Anzeige hatte Igor nämlich nie erreicht. Der Polizist, der in meiner Wohnung erschienen war, hatte es offenbar für ausreichend gehalten, mir die Handschellen abzunehmen, und er hatte Recht damit. Ich hatte seinen Scharfsinn unterschätzt.
Igor arbeitet jetzt mit einigen Iren zusammen. Das sind handwerklich geschickte Jungs, sie renovieren Häuser und Wohnungen, ziehen Mauern hoch oder reißen sie ein, entrümpeln Gebäude, tun alles Mögliche. Amsterdam ist zwar voll von
Unsrigen
, aber Igor meidet sie. Neuerdings mag er grobe körperliche Arbeit. Er verrichtet sie mit ungewöhnlicher Hingabe und Leidenschaft, wie zur Buße. Möglicherweise wird er von der verrückten Idee getrieben, mit seinem Schweiß könne er das gestörte Gleichgewicht wiederherstellen, mit jeder Mauer, die er
hier
erneuere, werde eine zerstörte Mauer
dort
wiederaufgebaut, in bosnischen und kroatischen Dörfern, oder wo es sonst nötig ist.
Das Leben meint es gut mit uns. Igor verlässt morgens das Haus und kommt spätnachmittags zurück. Als Erstes geht er ins Bad, duscht, spült den Schmutz weg, zieht saubere Sachen an, krempelt die Hemdsärmel hoch und setzt sich an den gedeckten Tisch. Ich trage das Abendessen auf. Wir essen langsam und reden seltsamerweise wenig. Unsere Worte sind trocken wie Sand. Diese Trockenheit tut mir gut. Vielleicht sind wir mit der Zeit Holländer geworden. Es heißt, die Holländer reden nur, wenn sie etwas zu sagen haben.
Nach dem Abendessen schmiege ich mich an ihn, atme seinen Geruch ein, atme durch seine Haut wie ein Fisch durch die Kiemen, passe meinen Puls dem seinen an, fließe durch seine Adern. Bisweilen rücke ich von ihm ab und betrachte ihn, als könne ich nicht glauben, dass er da ist. Ich bemerke etwas übrig gebliebene Wandfarbe an seiner Wange, lecke sie ab, wische sie mit meiner Spucke weg, nehme seine Lippe zwischen meine Zähne, dringe mit der Zunge in seinen Mund,
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