Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
dann aus Angst vor deren Messern aus dem Staub gemacht hat.
All dies erfuhr ich von Darko. Auf den war ich eines Tages am menschenleeren Strand bei Wassenaar gestoßen. Die Begegnung war unwirklich, fast hätte ich ihn nicht erkannt. Braun gebrannt, das Haar hellblond gefärbt, mit einer modischen Sonnenbrille und mit einem Walkman auf den Ohren ritt Darko auf einem Pferd. Er erinnerte an die Dressmen von Calvin Klein, allerdings in einer etwas fragileren Version. Er nehme Reitunterricht im Wassenaarer Klub, erklärte er mir. Er habeeinen festen Freund, einen erfolgreichen amerikanischen Geschäftsmann, verkehre aber weiterhin in seiner alten Schwulenclique. Nur dass er, einer von der Gosse, aus der er nie einen Hehl gemacht hatte, jetzt in einem Haus an der Reguliersgracht wohne. Dank seinem
boyfriend
, der für das Haus eine Million, eine Million Dollar, ja, zwei Millionen Gulden hingeblättert habe.
»Ich habe meine Leidenschaft fürs Reiten entdeckt«, sagte er und fügte, nachdem er mich intensiv angeschaut hatte, freundlich hinzu: »Belegen Sie einen Kurs, Yoga, Salsa, irgendwas, Hauptsache, man bewegt sich, das rate ich jedem, das hilft enorm.«
»Ich habe einen Holländischkurs belegt.«
»Bravo!«, sagte er, als spreche er zu jemand anderem und an einem anderen Ort.
In diesem Moment erblickte ich in seiner Sonnenbrille mein Spiegelbild und verspürte Beklommenheit. Auf den dunklen Gläsern leuchteten zwei kleine Gesichter, aber keins von beiden war meins.
Das Unwahrscheinlichste solle sich jedoch mit Igor abgespielt haben. Man erzähle, er sei total übergeschnappt. Zuerst habe er eine Stelle als Übersetzer beim Haager Tribunal bekommen, wo übrigens ein ganzer Haufen unserer Leute beschäftigt sei. Aber bald darauf habe man ihm gekündigt, weil er nicht zur Arbeit erschien. Dann sei er gefunden worden, wahrscheinlicher sei aber, dass er sich selbst gefunden habe, auf einem Flughafen in Kalkutta, Kuala Lumpur oder Singapur. Er solle an einem posttraumatischen Syndrom erkrankt sein. Seine Erkrankung habe einen super Namen, einen musikalischen, Fuge, dissoziative Fuge. Diese Fugen seien immer von plötzlichen Abreisen begleitet und könnten einige Tage, aber auch mehrereMonate dauern. Während des totalen Black-outs änderten die Betroffenen gezwungenermaßen ihre Identität, denn sie wüssten nicht, wer sie sind, noch, woher sie kommen. Kehrten sie zu ihrem vormaligen Leben zurück, hätten sie keine Ahnung, was mit ihnen im Zustand der Fuge geschehen sei. Ein totales, ein phantastisches Durcheinander, von so etwas habe er noch nie gehört. Manche Psychiater behaupteten, die Fugen kämen nicht von selbst, sie wären vielmehr eine Folge von Alkoholismus. Aber soweit er sich erinnere, habe Igor nie getrunken. Keiner wisse, wo er jetzt lebe und wovon. Vielleicht sei er heimgekehrt. Die anderen seien auch in alle Winde verstreut. Keiner habe Kontakt mit dem anderen.
»Übrigens, ich habe noch etwas entdeckt«, sagte er betont heiter.
»Was?«
»Die Oper! In der letzten Zeit stehe ich auf Verdi«, sagte er und zeigte auf den Walkman.
Dann hielt er inne und nahm eine etwas geduckte Haltung ein. Über sein feines hübsches Gesicht huschte ein Schatten.
»Das mit Uroš«, brachte er mühsam hervor, als spucke er Sand aus. »An jenem Abend, als wir Ihren Geburtstag feierten, erinnern Sie sich noch …«
»Ja, ich erinnere mich.«
»… brachte ich ihn nach Hause. Da haben wir ein wenig miteinander gespielt … Uroš war nicht schwul … Wir hatten viel getrunken …«
»Warum erzählen Sie mir das?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Ich weiß nicht. Das ist mir lange nachgegangen.«
Was das Haager Tribunal angeht, dort häufen sich die Dossiers, türmen sich die Akten, die Videoaufzeichnungen vomProzess übersteigen die Fläche des Landes, das es nicht mehr gibt. Doch jeder Verlust scheint ersetzt worden zu sein – in wirklicher, in ironischer oder in grotesker Form, aber jedenfalls ersetzt. Die Wunden sind verheilt, bei dem einen schön, bei dem anderen hässlich, aber jedenfalls verheilt. Auch werden die Narben immer blasser. Jeder ist irgendwo untergekommen, der eine tut, was er gelernt hat, der andere, was gerade gefragt ist. Die einen haben es besser getroffen, die anderen schlechter, aber jeder hat sich irgendwie zurechtgefunden. Die Toten und Vermissten sind noch nicht gezählt, viele Verbrecher laufen noch frei herum, viele Trümmer sind noch nicht aufgeräumt, auch viele Minen noch nicht
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