Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
gerichtet und die kleinen Münder weit aufgesperrt waren; es klang so schön, dass es eine Wonne war. Sie boten wahrlich einen wunderbaren Anblick, diese kleinen feierlichen Gesichter, die verspielten Knaben, die ihre Köpfe im Takt wiegten, die schüchternen Mädchen mit ihrer kerzengeraden Haltung, und in ihrer Mitte das intelligente Antlitz, von einem zufriedenen Lächeln erhellt, die durchdringenden schwarzen Augen, die jeden kleinen Kopf im Blick hatten, ganz so wie ein Hirt seine Lämmer. Bei der Lehrerin saßen zwei Mädchen, die aus grünen Zweigen einen großen Kranz flochten. Als sie fertig waren, standen sie langsam auf, schlichen auf Zehenspitzen an die Lehrerin heran und setzten ihr den Kranz aufs Haupt. Das Lied verstummte, mit lautem Geschrei flogen die Kinder wie Bienen auf die Lehrerin zu. Sie erhob sich, nahm ihren Hut und verließ, umringt von der fröhlichen Kinderschar, wie eine Zauberfee den Wald …
Epilog
Manchmal sind die Dinge im Leben so verzwickt, dass man nicht weiß, was früher und was später war, so wie mir nicht klar ist, ob ich diese Geschichte erzähle, um an ihr Ende oder an ihren Anfang zu gelangen. Seitdem es mich ins Ausland verschlagen hat, erlebe ich meine Muttersprache, die laut dem ekstatischen Vers eines kroatischen Dichters »summt, klirrt, tönt, rauscht, donnert, dröhnt, tost«, wie ein Stottern, Fluchen, Verwünschen, Lallen oder wie eine trockene, farblose, sinnentleerte Floskel. Deshalb scheint es mir gelegentlich, dass ich hier, wo ich mich, umgeben vom Holländischen, auf Englisch verständige, meine Muttersprache von neuem erlerne. Das ist nicht leicht, ich verschlucke Wörter, stoße Halbtöne aus, erlebe Niederlagen, kann nicht sagen, was ich möchte, und was ich sage, klingt hohl. Ich spreche ein Wort aus, spüre jedoch nicht seinen Sinn, oder ich spüre den Sinn, finde dafür aber kein richtiges Wort. Ich frage mich, ob man mit einer verstümmelten Sprache, die nicht gelernt hat, die Wirklichkeit zu beschreiben, so stark das innere Erlebnis der Wirklichkeit auch sein mag, überhaupt etwas anstellen kann, beispielsweise eine Geschichte erzählen.
Das Leben meint es gut mit mir. Mit der Zeit habe ich gelernt, die Gardinen an den Fenstern offen zu lassen. Ich bin sogar bemüht,dieses Zurschaustellen als eine Tugend zu werten. Ich habe einen Holländischkurs belegt. Wie die anderen Kursteilnehmer brauche ich viel zu oft das Personalpronomen
ik
. Für die Anfänger beginnt die Welt mit
ik
.
Ik ben Tanja Lucić. Ik kom uit voormalige Joegoslavië. Ik loop, ik zie, ik leef, ik praat, ik adem, ik hoor, ik schreeuw …
Das
ik
verpflichtet vorerst zu nichts. Das
ik
ist etwas wie das Versteckspiel der Kinder. Es heißt, man könne sich am besten dort verstecken, wo die Möglichkeit, gesehen zu werden, am größten ist. In den niederländischen Bergen. In den zwei Buchstaben
ik
.
Seit einiger Zeit verfolgen mich wieder Albträume. Allerdings träume ich nicht mehr von Häusern, sondern von Wörtern. Im Schlaf rede ich in einer unbändigen und zügellosen Sprache »mit doppeltem Boden«, deren Worte sich wie der »Teufel aus der Kiste« oder wie die »Faust in der Tasche« benehmen. Meistens sage ich Monologe, die meine wankelmütige Stimmung wiedergeben, suche nach Ausdrücken, rede lang und mühsam, blättere in einem endlosen Beschwerdebuch. Oft weckt mich mein eigenes schmerzerfülltes Winseln. Im Traum fülle ich den Raum um mich herum mit Wörtern. Die Wörter gedeihen, winden sich um mich wie Lianen, sprießen wie Farne, wachsen wie Kletterpflanzen, öffnen sich wie Seerosen, umranken mich wie wilde Orchideen. Der wuchernde Wortdschungel droht mich zu ersticken. Am nächsten Morgen frage ich mich, erschöpft von dem Nachtmahr, ob ich diesen Wortschwall in meinen Träumen als eine Strafe oder als Freispruch deuten soll.
Das Leben meint es gut mit mir. Paul und Kim, das amerikanische Paar, auf dessen Kinder ich vier Tage in der Woche aufpasse, bezahlen mich mehr als großzügig. Ich bin zu einer Expertin für Abzählreime geworden: für
unsrige
, englische, sogarfür holländische. Die Kinder kennen sie alle:
En ten tini, sava raka tini, sava raka tika taka, bija baja buf; Rub-a-dub-dub, three man in a tub, the butcher, the baker, the candlestick-maker; Amsterdam, die grote stad, die is gebouwd op palen, als die stad eens ommeviel, wie zou dat betalen. Ich und du, Müllers Kuh, Müllers Esel, das bist du …
Paul und Kim unterlassen es nie, mich ihren
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