Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
noch Kinder. In der Hand eines von ihnen bemerkte ich ein kleines Taschenmesser. Er senktesofort den Blick und ließ das Messer fallen. Alle drei machten finstere Mienen und blickten streng wie erwachsene Männer. Ich weiß nicht, wie lange wir, sie und ich, wie versteinert dastanden. Eine Sekunde vielleicht oder zwei oder drei. Offensichtlich wussten wir nicht, wie wir mit der Situation fertig werden sollten. Dann fasste der kräftigste von ihnen Mut. Er durchbohrte mich mit seinem Blick, riss den Mund weit auf und stieß einen langgezogenen, durchdringenden, hasserfüllten Schrei aus. Der Hass traf mich unerwartet und stark wie ein Stromschlag, er kam aus einer unbekannten Ferne, aus einer unbekannten Finsternis, aus einer unbekannten Tiefe. Nach einer Strecke von Lichtjahren knallte er vor mir auf den Boden, blank und scharf wie ein Messer, völlig unabhängig von der Situation und dem Jungen, dessen Lunge, Kehle und Mund rein zufällig zu seinem Medium geworden waren.
Die Jungen ergriffen die Flucht. Sie rannten ungeschickt wie Kinder, die Füße zur Seite schlenkernd, während die Schulranzen auf ihren Rücken hüpften. Als sie glaubten, weit genug weg zu sein, blieben sie stehen und drehten sich um. Da ich immer noch wie angewachsen dastand und ihnen nachschaute, machten sie einige obszöne Gesten und brachen in ein kehliges Gelächter aus. Ihren ersten, misslungenen Diebstahlversuch hatten sie in einen fröhlichen Sieg verwandelt. Ich stand da und blickte ihnen nach, bis sie verschwunden waren.
Als ich meine Hand öffnete, lag in ihr das Taschenmesser. Ich wusste nicht, wann ich mich gebückt und es aufgenommen hatte. Jetzt starrte ich auf das kleine Messer und dachte, wie rührend und zugleich schrecklich das war, was sich soeben abgespielt hatte. Der hasserfüllte Schrei des Kindes hallte in meinen Ohren nach.
Es war Spätnachmittag. Die Sonne verströmte großzügig eine warme Terrakottafarbe. Meine Spannung löste sich, undich ging, das kleine Messer fest in der Hand, weiter, ohne zu wissen, wohin. Ich atmete tief und versuchte, nicht an den Zwischenfall zu denken, der jedem passieren konnte, in jedem Stadtteil, in jeder Stadt, irgendwo, egal, wo …
Ich dachte daran, dass ich im größten Puppenhaus der Welt lebte, wo alles simuliert wird, wo nichts echt ist. Und wenn nichts echt ist, sagte ich mir, brauche ich auch keine Angst zu haben. Augenblicklich wurde mein Schritt leichter, meine Füße berührten kaum noch den Boden. Wie von einer Filmrolle liefen vor mir Bilder aus Madurodam ab. Mit frischem Erstaunen, als wäre es zum ersten Mal, sah ich Bonsais, die mächtige Eichen sein sollten, spärliches Gras, das üppige grüne Wiesen simulierte. Auf einmal wurde alles kristallklar. Die madurodamsche Ebene war dünn wie Reispapier, der Horizont schimmerte blau.
Ich sah Amsterdam und sein Herz in der Form eines halbierten Spinnennetzes. Ich sah die Magere Brug, die mit ihrer filigranen Leichtigkeit an eine Libelle erinnerte, das chinesische Fischgeschäft auf dem Nieuwmarkt, wo lebendige Fische zappelten, den Flohmarkt auf dem Waterlooplein … Bilder glitten vor meinen Augen vorbei, zerbrechlich, spitzenartig, leuchtend wie die Hauben der Mädchen auf Bildern von Nicolaas van der Waay. Ich sah die Grachten und die über sie geneigten schattenspendenden Bäume, sah die Fassaden der Häuser in der Herengracht, der Keizersgracht, der Prinsengracht und im Singel aufgereiht wie die kostbaren Perlen einer Halskette. Ich sah den Munttoren, den Blumenmarkt und den Artis-Zoo, atmete für eine Weile die schwere, warme, betäubende Luft des Botanischen Gartens. Vor mir lag wie auf meiner Hand die Stadt aus Himmel, Glas und Wasser. Das war mein Zuhause.
Ich sah das kleine Anne-Frank-Museum und die wie ein Regenwurm gewundene Besucherschlange vor dem Eingang.Im Erdgeschoss des Museums sah ich mich selbst. Ich stand vor einem winzigen Computerbildschirm, vertieft in das Videorätsel über das Mädchen Anne Frank.
Question 1:
Whom did Anne first share her room with?
Question 2:
Whom did she have to share it with later on?
Question 3:
What did Anne do to liven up her room?
Question 4:
Who built the bookcase?
Question 5:
From witch country did the Frank family flee?
Question 6:
Were all Anne’s girlfriends refugees?
Es hatte mir einen Stich versetzt, als ich zum ersten Mal feststellte, dass das Haus in der Prinsengracht 263 den Häusern ähnelte, die mich in meinen Albträumen verfolgten. Jetzt stieg ich mit
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