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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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hab’s vergessen«, murmelte sie. Dann ließ sie sich schwerfällig auf die Knie nieder und blies in die feuchte Glut, die nur noch stärker zu rauchen begann. Sie bemerkte:
    »Wir haben bald kein Holz mehr … Monsieur haben kein Geld dafür dagelassen.«
    »Schon gut, schon gut«, sagte er barsch.
    So gut es ging, behalf er sich mit zwei Krügen heißen Wassers aus der Küche; dann zog er einen Pyjama an und setzte sich an sein einsames Abendessen am Kamin; Pierrot lag schlafend zu seinen Füßen und hechelte leicht im Traum.
    Zerstreut aß er sein etwas zu hart gekochtes Ei mit Sülze und trank ein Glas Montrachet dazu; Jeanne stellte es vor ihn hin mit der Bemerkung, daß es die letzte Flasche sei. Dann ging er in sein Schlafzimmer hinauf. In dem leeren Raum erinnerte das Ticken des Weckers an ein schlagendes Herz. Yves dachte daran, wie er als ganz junger Mann die Ruhe menschenleerer Räume geliebt hatte; damals hatte ihn die Einsamkeit berauscht wie ein starker bitterer Likör; heute weckte sie ein wirres Gefühl in ihm, etwas Ähnliches wie Angst; ab und zu peinigte ihn die Vorstellung, daß er mitten in der Nacht schwer krank werden könnte, keine Luft mehr bekäme, röchelnd um Hilfe riefe und niemand da wäre – Jeanne schlief im sechsten Stock. Er schämte sich seiner Feigheit; doch unwillkürlich überlief ihn ein Schauder, wenn er die Schatten beobachtete, die in den Zimmerecken und den Falten der Vorhänge immer dichter wurden. In solchen Momenten begriff er, warum Menschen heiraten … um »das« zu haben, die Gegenwart eines anderen, das Geräusch von Röcken, jemanden, dem man unwichtige Dinge erzählen konnte, jemanden, den man nicht anlächeln mußte, wenn man schlechter Stimmung war, jemanden, der da war, wenn man schwieg. Und doch – es war sonderbar … in solchen Augenblicken dachte er nie an Denise … Diese Beziehung war für ihn im Grunde nur anstrengend. Zu einer bestimmten Stunde mußte man zärtlich sein, liebevoll, leidenschaftlich; wenn er den Kopf voll hatte von tausend kleinen, alltäglichen Sorgen, die ihm zusetzten wie Mücken an einem heißen Tag, mußte er schöne Dinge sagen, lächeln, liebkosen; wenn ihm rasende Kopfschmerzen die Schläfen zusammendrückten, mußte er reden, damit Denise’ Blick nicht ängstlich wurde, damit er die ewige traurige kleine Frage nicht zu hören bekam: »Was hast du? Woran denkst du? Liebst du mich nicht?« Er wollte dieser jungen und hübschen Frau, die so gut, so bezaubernd war, wie geschaffen, um zu lachen, um das Glück und die Liebe zu genießen, seine tausend armseligen Alltagssorgen nicht anvertrauen. Eine Geliebte war dazu da, einen Mann zu trösten, wenn er von einem großen romantischen Leiden sprach, dachte er, doch sie eignete sich nicht dazu, einem Mann lange und ohne Ungeduld zuzuhören, wenn er ihr nur sagen will: »Mir fehlen dreihundert Francs für die Steuer; Jeanne hat wieder mal vergessen, den Gasofen im Bad reparieren zu lassen; die Möbel sind voller Staub; der Gipürevorhang im Wohnzimmer ist zerrissen … Man sollte den Sessel neu beziehen lassen, der Stoff franst schon aus. Aber ich habe keine Zeit, mich darum zu kümmern … und keine Zeit, mir Wäsche zu kaufen, neue Socken …« Also mußte man schweigen oder von belanglosen Dingen reden, oder aber hübsche Nichtigkeiten von sich geben – es waren eigentlich keine Lügen, aber weil er soviel Kraft aufbringen mußte, sie sich auszudenken, erschöpften sie ihn ungeheuer …
    ›Mit ihr zusammen‹, dachte er sonderbar gereizt, ›muß man innerlich immer einen Smoking tragen. Aber das übersteigt leider meine Möglichkeiten …‹
    Dann erinnerte er sich eher resigniert als erwartungsvoll daran, daß sie ihm versprochen hatte, ihn gegen zehn Uhr anzurufen. Sie würde wahrscheinlich zu ihm kommen; ihrem Mann würde sie sagen, sie gehe ins Theater oder zu einer Freundin. Er seufzte. Wie eigenartig das doch war … Wenn er wußte, daß er sie bald sehen würde, zögerte er den Moment ihres Treffens hinaus, solange es ging; es war nicht Überdruß, was er empfand … er spürte vielmehr die Abwesenheit von Verlangen; er hatte Lust, die Uhr zurückzustellen, flanierte durch die Straßen, erfand tausend Vorwände, um später kommen zu können, weil er sich ihrer Gegenwart, ihrer Zärtlichkeit, ihrer Liebe allzu sicher war. Doch es genügte, daß Denise von irgend etwas abgehalten wurde, rechtzeitig zu ihrem Treffen zu erscheinen, und er war erneut verliebt, ungeduldig und

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