Das Missverstaendnis
voll köstlicher Vorfreude; wenn Denise manchmal unwohl war, geriet er in Panik, quälte sich, wurde liebevoll und sanft; es tat ihm körperlich weh, wenn sie litt; er konnte sie nicht verlassen; auf einmal war sie ihm das Liebste auf der Welt. Doch am nächsten Tag war sie wieder wohlauf, und er begann erneut, sich mit seiner Liebe abzuschleppen wie mit einer schweren Last.
An diesem Abend setzte er sich an seinen Tisch und erwartete dort ihren Anruf. Er schob Pierrot zur Seite, der seine feuchte schwarze Nase hartnäckig in seine Hand steckte, und zog mit einem resignierten Seufzen einen Stapel Papiere zu sich heran – Rechnungen, Quittungen, Meldungen von Jeanne. Am Ende des Monats fehlten ihm stets einige hundert Francs; um den 20. herum zwang er sich zu einer eingehenden Prüfung seiner Finanzen, die ihm nichts anderes einbrachte als schlechte Laune, weil er sich darüber klar wurde, daß er wieder einmal gegen die von ihm selbst aufgestellten eisernen Regeln der Sparsamkeit verstoßen hatte. Mit seinem Monatsgehalt von zweitausendfünfhundert Francs schienen einige seiner Kollegen, die verheiratet waren und Kinder hatten, auf das beste leben zu können. Aber Yves war vom 1. bis zum 30. knapp bei Kasse. Der Grund dafür war ihm allerdings wohlbekannt, er wußte, daß kostspielige Gewohnheiten – zum Beispiel morgendliche Taxifahrten, um nicht zu spät ins Büro zu kommen, erstklassige Zigaretten, teure Kleidung, zu häufige und zu großzügige Trinkgelder – sein Budget über Gebühr belasteten; er wußte es und hatte doch nicht die Kraft, sich dieser Gewohnheiten zu entledigen. Er zog es vor, die notwendigen Dinge den überflüssigen zu opfern, und litt gleichzeitig darunter; er war kein Bohemien; er war nicht mehr jung genug, um in den Tag hinein leben zu können; nur die Zähne eines Zwanzigjährigen nagen mit Vergnügen an einem Stück trockenem Brot.
Er seufzte, schob die Papiere zurück und legte den Kopf in die Hände. Es war bereits nach zehn Uhr. Denise würde bestimmt nicht mehr anrufen, und das erleichterte ihn eher, als daß es ihn enttäuschte. Hinter ihm beleuchtete die Lampe das Bett mit der zurückgeschlagenen Decke, dem weißen Laken; genußvoll stellte er sich das frische Leinen vor, das weiche Kopfkissen, die Erholung, die ein einsamer Schlaf brachte, die Ruhe, den Frieden. Ach, wie gut es wäre, sich dort auszustrecken und die schwere Decke über sich zu ziehen, die aus grünem Satin war, mit goldenen Bienen bestickt … sie hatte einem Großonkel von ihm gehört, der unter Napoleon Senator gewesen war … Er würde sich eine Zigarette anzünden und sich auf dem ovalen Nachttischchen mit Intarsien aus Perlmutt und Schildpatt eines seiner Lieblingsbücher auswählen, ein Buch mit altem Ledereinband, tausendmal gelesen … Er würde ein wenig darin lesen, dann die Lampe ausknipsen, sich zur Wand drehen … einschlafen … Seine schweren Lider schmerzten … Er riß die Augen auf, wie es Kinder tun, die nicht schlafen gehen wollen. Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. Es war Denise.
»Yves, mein Liebster, können Sie nicht in einer Stunde zu uns ins Perroquet kommen? Bitte!«
»Aber Sie wissen doch …«, begann er.
Sie sagte mit einem armen dünnen Stimmchen, ganz demütig: »Oh, ich bitte Sie, Yves, kommen Sie«, so daß er Mitleid bekam und sich gleichzeitig ein wenig schämte.
›Es stimmt ja, man könnte glauben, daß ich ein alter Tattergreis bin‹, dachte er; und resigniert sagte er:
»Na gut … Bis gleich, Denise …«
Pierrot beobachtete ihn schwanzwedelnd; dann wandten sich seine goldenen Augen bittend zum Bett; er schien zu fragen: ›Was ist denn los? Warum gehst du nicht schlafen? Es ist doch schon so spät … Wir löschen das Licht; ich lege mich auf meinen Lieblingsplatz am Feuer, auf dieses alte Fell, das einen so hinreißenden Moschusgeruch verströmt – du nimmst das allerdings nicht wahr, du Mensch, unvollkommenes Wesen … Der Widerschein der Flammen ist noch einmal zuckend an der Decke zu sehen, bevor er erstirbt, und ich wache über dich, während du schläfst … Nur wir zwei, ganz friedlich …‹ Doch Yves irrte mit vor Müdigkeit brennenden Augen durch die kalte Wohnung, um zwischen schattenhaften Sesseln und in dunklen Schrän ken seine Kleider zusammenzusammeln, Frack, Seiden strümpfe, gestärkte Hemdbrust und seinen langen weißen, mit schwarzen Initialen bestickten Seidenschal, den Jeanne hartnäckig jede Woche woanders hinlegte.
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