Das Missverstaendnis
Perroquet waren auf roten Samtsofas versammelt: die Jessaints, Yves, Madame Franchevielle und Jessaints englische Freunde Mr und Mrs Clarkes, er lebhaft, mager und rothaarig, sie lang und flachbrüstig, mit den muskulösen, gut durchbluteten Armen der Tennisspielerin, feinem, weichem, schon grau werdendem blondem Haar, brüsken Bewegungen und einer hohen Vogelstimme.
Sie waren auf der Durchreise; am Vortag aus London eingetroffen, bestaunten sie das Perroquet mit der Naivität jener Ausländer, die in ihrer kopflosen Bewunderung Louvre, Notre-Dame und Pigalle miteinander verwechseln.
Das Perroquet war an diesem Abend brechend voll. Es war hübsch anzusehen: Der Raum war größer als der von normalen Lokalen, gut belüftet und mit hoher Decke, und die Frauen – es war noch relativ früh – bewegten sich mehr oder weniger ungezwungen hin und her. An den Wänden stellten Papageien ihr buntes Gefieder zur Schau. Die Frauen schienen wunderschön zu sein … doch nur aus der Entfernung, eigentlich nur aus sehr weiter Entfernung; wenn man ihnen nahe kam, stellte man verblüfft fest, daß sie mit wenigen Ausnahmen häßlich waren, welk unter ihrer Schminke. Ihre gemarterten Füße steckten in viel zu engen Schuhen, ihr Rücken war fett, ihre Arme rot – trotz der dicken Puderschicht, die sie bedeckte. Mit einer Art bitterem Vergnügen folgte Yves ihnen lange mit dem Blick, wenn sie in ihren kaum knielangen Kleidern tanzten, mit diesen knabenhaften Frisuren, und ihm unvermittelt und arglos ihre lügenhaften Altfrauengesichter zuwandten. Am Nebentisch kokettierte eine Amerikanerin unbestimmbaren Alters, mit den spitz herausragenden Schultern eines Gerippes und Perlenschnüren, die in den Wülsten ihres Nackens verschwanden, mit einer Puppe im Pierrotkostüm, die sie in den Armen wiegte; unter Puder und Make-up traten ihre geschwollenen Augensäcke auf monströse Weise hervor … Eine andere, die mit ihrem großen Kopf und dem zwergenhaften Körper an eine Kröte erinnerte, war eingehüllt in ein herrliches faltenreiches Gewand und betrachtete mit dem zärtlichen Blick eines menschenfressenden Ungeheuers ein armes junges, vor Verblüffung stumm gewordenes Ding, das sie mit tentakelhaften Armen umschlang … Yves haßte sie alle, ohne sie zu kennen, erbittert und aus tiefstem Herzen.
Außerdem ärgerte, langweilte, reizte ihn alles an diesem Abend – die schrille Musik der Jazzbands, das konvulsivische Gelächter des schwarzen Sängers, die spitzen Schreie, das Getue der alten Weiber in kurzen Röcken, all die idiotischen Albernheiten, die gewollte Fröhlichkeit, alles, bis hin zu Denise – sorglos, heiter, luxuriös, mit ihren silbernen Schuhen, ihrem weißen Kleid, das im Licht schimmerte; sie amüsierte sich, sie lachte, während er bei ihr saß, wütend, traurig und verkrampft, und trank, ohne durstig zu sein, lachte, ohne froh zu sein, sich bemühte, höflich und freundlich zu sein trotz seines heftigen geheimen Wunsches, sie alle zum Teufel zu schicken! … Unter dem Tischtuch spürte er Denise’ schmales Bein, das das seine suchte; er berührte es leicht und zerstreut, während er nervös verfolgte, wie sich in rascher Folge die Champagnerflaschen auf dem Tisch ansammelten.
Mit einem unangenehmen kleinen Schauder sah er den unvermeidlichen Moment voraus, in dem er Jessaint oder Mr Clarkes leise und in gleichgültigem Ton fragen mußte: »Wieviel schulde ich Ihnen, lieber Freund?« Die höfliche Abwehr, sein Insistieren, dann, lässig hingeworfen, die Antwort – eine Zahl, die ein Viertel seines monatlichen Einkommens ausmachen würde –, das Öffnen des Portemonnaies, mit einem Lächeln, einige Hundertfrancscheine, dem Oberkellner in die Hand gedrückt, betont ungezwungen dann das Anzünden der nächsten Zigarette … In einem Monat war es bereits das fünfte Mal, daß er an so einer kleinen Feier teilnahm …
Die Puppenverkäuferin kam an ihren Tisch und bot ihnen aus ihrem Bauchladen kleine Herren und Damen aus Stoff an, in den Kostümen der italienischen Komödie oder nach spanischer Mode gekleidet, in Abendroben aus Samt und Seide. Mrs Clarkes, Madame Franchevielle und Denise streckten die Hände danach aus – diese Spielzeuge für große Kinder fanden reißenden Absatz. Jessaint kaufte drei.
Denise wandte sich an Yves und rief, ohne nachzudenken:
»Oh, kaufen Sie doch eine für Francette!«
Ohne mit der Wimper zu zucken, griff Yves nach seiner Brieftasche. Da änderte sie ihre Meinung, wurde rot,
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