Das Missverstaendnis
heißem, duftendem Wasser gefüllte Wanne hineingleiten und seine Glieder entspannen konnte, wie sich Schüler, die in Internate eingesperrt sind, die dampfende Suppenschüssel unter der Lampe am abendlichen Eßtisch der Familie vorstellen. Yves kam es vor, als würde er mit dem Staub des Tages auch die Müdigkeit, die schlechte Laune, die Sorgen und die ganze Atmosphäre des verhaßten Büros von sich abwaschen.
Heute war ihm die tägliche Arbeit noch mühsamer vorgekommen als gewöhnlich: Er war nervös gewesen wie eine Frau, und die Zeit wirkte mit tyrannischer Übermacht auf ihn ein. Seit dem frühen Morgen fiel zudem ein feiner Regen, grau, weich und stetig, dessen leises, hartnäckiges Plätschern an der Fensterscheibe ihm Lust machte, mit den Zähnen zu knirschen. Wenn er den Kopf hob, sah er die dunkle, schmutzige Straße, traurige Rücken, die sich unter glänzenden Regenschirmen beugten, immer in Eile, wie eine von einer unsichtbaren Hand gejagte Schafherde; Reklameplakate leuchteten unter dem schwarzen Himmel. Gegen fünf Uhr hörte der Regen auf, und am Horizont erschien ein heller rötlicher Streifen; einen Augenblick lang spiegelten die nassen Straßen dieses Licht und funkelten wie Amethyste; doch im Büro wurden Lampen mit grünen Schirmen angeknipst, und da war es draußen augenblicklich Nacht. Dieses Geklapper von Schreibmaschinen, dieser Tintengeruch … stechende Schmerzen im Nacken, im gebeugten Rücken, und die Augenlider brannten … Zahlenkolonnen, untereinandergeschrieben, immer länger werdend … Ein Stapel Briefe, Arbeit, die niemals abnahm, wie der Inhalt des goldenen Sacks der Kobolde aus dem Märchen, den man unablässig leeren und wieder füllen muß, tausend und abertausend Jahre lang, zur Strafe, weil man den alten Rhein dabei überrascht hatte, wie er im Abendlicht mit den Goldfunken der Wellen spielte … Diese Köpfe, immer dieselben Köpfe um ihn herum, aufmerk same Angestellte, über ihr Pensum gebeugt … Er konnte nie begreifen, wie das für irgend jemanden der Traum eines ganzen Lebens sein konnte, dieser Platz am Fenster, dem zweitausendfünfhundert Francs Monatsgehalt entsprachen – für ihn war es wie Internat und Gefängnis zusammen.
Am Nebentisch ging Mosès, Typ junger, reicher, eleganter Israelit mit spitzer Nase in einem schmalen und blassen Gesicht, die Zahlen durch wie ein Liebender, der mit begierigem Blick den Brief seiner Geliebten verschlingt. Ob es sich darum handelte, das Protokoll der letzten Generalversammlung ins reine zu schreiben, eine Hausse des englischen Pfunds oder eine Baisse des Rohrzuckers auf dem haitianischen Markt zu notieren, Mosès erledigte seine Arbeit stets mit derselben ungeheuren Eilfertigkeit, demselben fiebrigen Interesse. Yves beneidete ihn, und er dachte daran, was sein Chef ihm eines Tages gesagt hatte – auch er ein Jude, doch vom alten Schlag, mit fast unanständig großer Nase und einem schmutziggrauen Bart; er hatte mit starkem Akzent gesprochen und seine Worte mit einer Geste seiner weichen und behaarten Hand unterstrichen:
»Mein lieber Harteloup, was Ihnen fehlt, ist ein ganz kleiner Tropfen von unserem Blut …«
Er lächelte freudlos.
›Vielleicht hatte er recht gehabt, der Alte.‹
Es machte ihm zu schaffen, daß ihn die Gedanken an die Arbeit nicht losließen; sie waren wie ein stumpfsinniger Refrain, der in einem müden Geist kreist, oder wie Fetzen eines Alptraums, die einen noch vom Schlaf benebelten Kopf bedrängen.
Nervös ließ er seine Fingergelenke knacken.
›Verdammtes Leben …‹
Dann rief er gereizt:
»Jeanne, was ist mit meinem Bad?«
Jeanne betrat mit leisen Schritten das Zimmer; sie war ein wenig schwerhörig und mußte näher herantreten, wenn man mit ihr sprach; in ihrem spitzen Mardergesicht blinzelten die leeren, müden Augen der Frau aus dem Volk.
»Monsieur haben mich gerufen?«
»Mein Bad.«
Überrascht sagte sie:
»Aber, Monsieur … Monsieur wissen doch, daß der Gasofen heute morgen kaputtgegangen ist …«
»Haben Sie niemanden gefunden, der ihn repariert?«
»Doch, Monsieur.«
»Und?«
»Der Handwerker ist nicht gekommen.«
Yves öffnete den Mund, um sie wütend zu beschimpfen – er war nicht gerade ein geduldiger Mensch –, doch der Anblick dieses ruhigen, traurigen Gesichts ließ ihn beschämt schweigen. Er begnügte sich mit einer müden Handbewegung.
»Na gut … dann machen Sie in der Küche Wasser heiß … Warum haben Sie das Feuer ausgehen lassen?«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher