Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
Vom Netzwerk:
los?«
    »Nichts, gar nichts«, sagte er, indem er den Kopf schüttelte und mühsam lächelte.
    Sie machte eine heftige Geste, sagte aber nichts. Mit welcher Entschiedenheit er sie aus seinem Leben verbannte … Aber vielleicht täuschte sie sich? Hatte er tatsächlich Sorgen? Oder war er ganz einfach nur mißgestimmt wie so oft? Wie sollte sie das entscheiden? Kannte sie ihn denn? ›Kennt man einen anderen Menschen überhaupt jemals?‹ dachte sie düster.
    Sie begaben sich in sein Schlafzimmer. Fast automatisch ging sie zu dem runden Wandspiegel mit vergoldetem Holzrahmen – seit dem letzten Herbst hatte sie an dieser Stelle schon viele Male ihren Hut abgelegt und wieder aufgesetzt. Sie betrachtete sich mit ernster Miene und glättete sich dann das kurzgeschnittene Haar mit der sanften Bewegung einer Katze, die ihr Fell säubert, wie Yves einmal bemerkt hatte. Jetzt hatte er sich in einem großen Sessel am Fenster niedergelassen. Als Denise sich umdrehte, sah sie ihn reglos und mit geschlossenen Augen dasitzen. Sie nahm sich ganz sacht ein Kissen und setzte sich ihm zu Füßen. Seine Hand lag auf dem Knie. Denise legte ihre Wange auf diese Hand, dann berührte sie sie mit den Lippen. Doch Yves sagte kein Wort und regte sich nicht: Er war eingeschlafen.
    Denise betrachtete ihn schweigend; sie wußte nicht, ob er vielleicht mit ihr spielte; dann legte sie ihr Gesicht auf die Sessellehne und blickte zum Fenster, während sie geduldig darauf wartete, daß ihr Geliebter die Augen öffnete. Draußen dämmerte ein angenehmer, warmer Juniabend. Sie hob den Kopf und entdeckte die silbrig-grün schimmernde Mondsichel, die sich auf dem blassen Himmel immer deutlicher abhob. Rosiger Staub verschleierte die reine Luft, die unmerklich dunkler wurde; dann ging die Dämmerung in Nacht über.
    »Yves!« sagte Denise sehr leise.
    Auch im Zimmer war es dunkel geworden; Yves’ nach hinten geneigtes Gesicht hatte im Zwielicht etwas vom ruhigen Ernst eines Toten. Eine unerklärliche Angst überfiel Denise. Sie kniete sich vor ihn und sah ihn prüfend an. Er schlief tief. Sie stand auf, beugte sich über ihn und betrachtete ihn noch einmal eingehend. Im Schlaf wirkte er angespannt, trotzig. Viele Male hatte sie ihn nach ihren Umarmungen schon schlafen sehen, und immer hatte sie dieses eigenartige Gefühl gehabt, immer war ihr sein Ausdruck rätselhaft gewesen. Doch nie so sehr wie heute. Sie näherte sich ihm, berührte ihn fast; sie mußte den kindlichen und grausamen Wunsch unterdrücken, seine Lider anzuheben, um einen Rest seiner Träume zu erhaschen; doch diese Lider, dunkel von Schlaflosigkeit, blieben hartnäckig geschlossen, und schließlich begann er keuchend zu atmen, als plagten ihn Alpträume.
    Da schüttelte sie ihn ein wenig. Er zuckte zusammen und öffnete mit verwirrtem und ängstlichem Blick die Augen. Das Fenster war ein großer milchweißer Fleck in der Dunkelheit; er fragte mit undeutlicher Stimme:
    »Ist es schon spät?«
    Er sah Denise, die sich mit zusammengezogenen Brauen über ihn beugte, versuchte zu lächeln und hob mühsam die Hand, um sie an die Stirn zu legen. Ein kurzer Schlaf am Tag bringt oft wenig Erholung; er fühlte sich zerschlagen und unendlich müde. Es gelang ihm nicht, klar zu denken – es war, als würde ein Teil seines Wesens immer noch schlafen …
    Doch Denise, die Augen gesenkt, sagte sehr schnell:
    »Hör mir zu, bitte hör zu, Yves … Ich kann nicht mehr … Warum hast du geschlafen? Du hast heute nacht nicht geschlafen. Wo warst du? Sag es mir … Ich will es einfach wissen … Betrügst du mich? Nein, lach nicht. Woher soll ich es denn wissen? Vielleicht liebst du eine Frau, die dich nicht will? Du leidest womöglich wegen einer anderen … Yves, hab doch Erbarmen mit mir … Ich bitte dich, ich flehe dich an … hab Erbarmen …«
    Yves zuckte die Achseln. Das hatte gerade noch gefehlt.
    »Ich schwöre dir, daß es nicht das ist, was du denkst, meine arme Kleine«, sagte er in dem kontrollierten, ruhigen Ton, den man anschlägt, wenn man mit kranken Kindern spricht.
    »Dann sind es also Geldsorgen?« sagte sie mit Nachdruck.
    Es lag ihm auf der Zunge. »Ja«, wollte er sagen, aber dann … Er sah die Perlenkette an ihrem Hals. Er kannte sie. Sie würde die Kette abnehmen und sagen: »Nimm sie«, oder etwas anderes in dieser Art, was genauso reizend und genauso verrückt war. Eigentlich war es tatsächlich so einfach. Sie hätte ihm zehnmal helfen können, zehnmal … Er biß sich

Weitere Kostenlose Bücher