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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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auf die Lippe, so daß sie blutete; er wußte sehr wohl, warum er schwieg. Ach! Wenn sie arm wäre wie er selbst! … Doch in seinem tiefsten Inneren lauerte die dunkle Angst, nicht die Kraft zu haben, ihre ausgestreckte Hand zurückzustoßen, in der die Perlenkette lag, das Geld, das Almosen …
    Erneut schüttelte er den Kopf.
    »Nein.«
    »Ich kann dir also nicht helfen?« fragte Denise mit wachsender Verzweiflung.
    »Nein«, wiederholte er mit leiser, tonloser Stimme.
    Dann legte er plötzlich seine Hand auf ihr Haar und streichelte es lange und zärtlich.
    »Denise, willst du mir helfen? Hör zu. Du mußt mich allein lassen. Was willst du? Es ist nicht meine Schuld … Wenn ich Schmerzen habe, muß ich allein sein, allein leiden, absolut allein, wie ein Hund. Das tut mir gut … Ich will nicht, daß du dich wegen mir quälst, wegen meiner Sorgen, die gar nicht so groß und so schrecklich sind, wie du glaubst. Ja, geh! … Es wird vorbeigehen, sehr bald sogar. Weißt du, ich bitte dich ja nur um einige Tage, nur ein paar Tage … Aber allein muß ich sein, Denise, absolut allein … Hab Erbarmen … Sonst werde ich noch verrückt! Deine Vorwürfe, deine Angst … Ich kann nicht mehr, Denise, auch ich, ich kann nicht mehr … Laß mich meine Sorgen hin und her wälzen, sie sollen gären können wie Wein, am Ende wird alles besser … Ich werde geheilt sein. Stell dir vor, daß ich krank bin, irrsinnig bin, aber laß mich!«
    Er hatte immer nervöser und fiebriger gesprochen, und wirklich begehrte er in diesem Augenblick nichts anderes als Einsamkeit, wie ein Kranker Wasser oder frisches Obst begehrt. Seine Hände, sein Mund zitterten.
    Denise war blaß geworden und stand aufrecht da. Sie puderte sich und setzte ihren Hut wieder auf. Sie sagte nichts; sie sah ihn nicht an. Ein Gefühl vagen Bedauerns überkam ihn, gemischt mit Furcht.
    »Denise«, murmelte er in sanfterem Ton, »ich werde Sie anrufen, ja?«
    »Wie Sie wollen«, erwiderte sie.
    Sie wagte es nicht, den Blick auf ihn zu richten, weil sie Angst hatte, in Tränen auszubrechen. Er hatte ihr so weh getan – es war schlimmer, als wenn er sie geschlagen hätte. Doch begriff er das überhaupt? Er hatte sie zurückgestoßen, fortgejagt … Wilde und blinde Rachsucht mischte sich in ihre gekränkte Liebe. Er aber, als er sie so ruhig sah, sagte sich: ›Sie versteht es.‹ Sie gab ihm stumm die Hand.
    Er preßte seine Lippen darauf und zog sie dann an sich, umarmte sie, drückte sie; wie fühllos ließ sie es geschehen. Er wollte sie auf den Mund küssen. Sie schob ihn sanft zurück und ging zur Tür.
    Er sagte:
    »Also, abgemacht? In ein paar Tagen … Ich rufe an …«
    »Ja, ja, seien Sie ganz beruhigt«, murmelte sie.
    Und sie ging.
    Als er wieder allein war, empfand er einen Augenblick lang entsetzliche Verzweiflung. Er machte einige Schritte zur Tür. Dann besann er sich und sagte sich seufzend: › Wozu? ‹
    Langsam näherte er sich wieder dem Fenster und sah sie rasch davongehen. Die Männer drehten sich nach ihr um. Sie bog um die nächste Ecke und war verschwunden.
    Dann rief er Pierrot und setzte sich mit ihm aufs Sofa. Es war dunkel, es war still … Das Gefühl eines bitteren Friedens überkam ihn …

20
    Z wei Tage vergingen, ohne daß Denise Yves wiedersah oder etwas von ihm hörte.
    Am Samstagmorgen schlug Jessaint seiner Frau vor, einen zweitägigen Ausflug mit dem Auto aufs Land zu machen, wie sie es häufig taten. Sie fuhren dann in ihr Haus unweit von Étampes, das vor etwa hundertfünfzig Jahren zum Anwesen eines Steuerpächters gehört hatte. Denise liebte das Landleben und nahm das Angebot, ihren Mann dorthin zu begleiten, stets mit Freuden an. Diesmal war es anders. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich eine Ausrede einfallen zu lassen: Sie war sicher, daß Yves sie im Lauf dieses Tages anrufen würde.
    Jessaint drang nicht in sie. Seit einiger Zeit schien er im Gespräch mit seiner Frau befangen und unglücklich zu sein; Denise hatte den Eindruck, er ahnte, daß sie etwas Wichtiges vor ihm verbarg. Doch worum es sich auch immer handeln mochte – er zog es vor, das Geheimnis nicht zu ergründen. Er gehörte zu jenen von Grund auf ehrlichen Charakteren, die es stört und beschämt, wenn sie spüren, daß andere lügen und betrügen. So fuhr er allein, nachdem er Denise seufzend einen Kuß auf die Stirn gedrückt hatte. Und der kleine resignierte Seufzer dieses starken und guten Mannes, von dem sie wußte, daß er zuweilen auch

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