Das Missverstaendnis
ganzes Sein umfassendes Gefühl der Verlassenheit. Es war eine fürchterliche Empfindung, wie ein minutenlanger Schwindel, der der Bewußtlosigkeit vorausgeht … Mit beiden Händen griff er sich ans Herz, dessen unregelmäßiges Schlagen ihn schmerzte. Dann ging er zum Fenster und öffnete es; die frische Morgenluft tat ihm gut; er stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und blieb lange in dieser Haltung, ohne sich zu rühren, ohne zu denken. Nach und nach wurde es hell; der Himmel war von einem rosigen Schein überzogen; aus einem benachbarten Garten hörte er den ohrenbetäubenden Gesang der Vögel. Ein Auto fuhr die verlassene Straße entlang, und der Ton seiner Hupe hinterließ in der noch menschenleeren und schlafenden Stadt ein langes Echo. Hie und da regte sich das erste Leben.
Yves beugte sich vor und starrte dumpf auf das Straßenpflaster. Sein hochgewachsener Körper zitterte. Ein Ruck … der Sturz … und alles wäre zu Ende … Es war ganz einfach. Seine Gedanken waren schmerzlich und verworren, wie in einem Traum. Fetzen vager Erinnerungen stiegen in ihm auf, Erinnerungen, die so alt waren, daß er nicht wußte, ob sie nicht in Wahrheit Träumen entsprungen waren … Schöne Morgen seiner Kindheit, kühle, frische Morgen in unbekannten Städten, auf Reisen, und dann die Morgen im Krieg. Er hielt inne, richtete sich auf und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn. Er war Soldat gewesen. Ein Soldat stirbt nicht auf solche Weise. Er schloß die Augen, um diese Straße nicht mehr zu sehen, dieses rötlich glänzende Pflaster im hellen Licht, und mit gesenktem Blick schlug er rasch das Fenster zu. Die schreckliche Schwäche war vorbei; er begann wieder zu leben – oder vielmehr gewann die Gewohnheit des Lebens wieder Macht über ihn. Mechanisch tat er, was zu tun war; er badete, rasierte sich, zog sich an und verließ dann das Haus. Es war bereits sehr heiß; der Beginn eines schönen Sommertages; Frauengesichter schoben sich über Balkongeländer; fliegende Händler mit ihren Blumenwagen kamen vorbei und riefen: »Rosen! Wer will schöne Rosen?«; die dünnen Wasserstrahlen aus den Schläuchen funkelten in allen Regenbogenfarben; Kinder auf Fahrrädern kamen vorbei, verfolgten einander und sangen dabei laut; sie hatten Weidenkörbe auf dem Rücken, und ihre Kittel flatterten im Wind. Fast zwanghaft beobachtete Yves jedes kleine Detail in dieser Straße, wie ein Kranker, dessen Geist sich verzweifelt an die tausend Nichtigkeiten seines Zimmers klammert. Nach und nach faßte er wieder Mut, Gott weiß warum! Sein Herz beruhigte sich in dem Maß, in dem er die frische, noch relativ reine Luft dieses Pariser Morgens atmete. Die entsetzliche Verzweiflung der vergangenen Nacht kam ihm auf einmal unangemessen vor; er schämte sich. Er lief an einem Park vorbei, ein Stück Rasen mit Bäumen und einer häßlichen Statue in der Mitte; dort war fast niemand – man hatte gerade erst das Gittertor geöffnet. Er trat ein und setzte sich auf eine Bank. Auf dem baumbeschatteten Weg spazierten ein junger Mann und eine junge Frau, die beide offenbar in einem nahe gelegenen Kaufhaus arbeiteten. Der Mann erzählte etwas und gestikulierte heftig. Seine Freundin hörte ihm zu; ihr wenig anziehendes Gesicht wurde vom Widerschein ihres Gefühls erhellt. Der Mann beklagte sich offenbar über irgendeine Ungerechtigkeit, erklärte, was ihm zu schaffen machte; die Frau sagte nichts, sie konnte ihm nicht helfen, aber sie litt mit ihm, und das machte das Leiden des Mannes etwas erträglicher. ›Dieser Mann ist glücklich, er kann seine ganze Last auf die Schultern seiner Freundin laden‹, dachte Yves. Er sah Denise’ ängstlichen Blick vor sich; er erwog die Möglichkeit, ihr etwas anzuvertrauen. Aber nein. Wozu? Selig der bescheidene Mann des Volkes, der Freud und Leid mit seiner Frau teilt … Seine Seele verfinsterte sich wieder, und er stand auf. Der Park bevölkerte sich allmählich mit Kindern und Dienstmädchen. Er bemerkte, daß er zu spät ins Büro kommen würde, und ging mit schnellem Schritt auf die nächste Metrostation zu.
An diesem Abend klingelte Denise gegen sieben Uhr bei ihm. Er öffnete ihr wie üblich die Tür; voller Bestürzung blickte sie in sein Gesicht: Es schien abgemagert zu sein, die Wangen hohl und aschgrau; seine Augen waren gerötet von Schlaflosigkeit und glänzten stark über den geschwollenen Tränensäcken. Rasch nahm sie seine Hand:
»Mein Liebster … Was ist nur mit dir
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