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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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jähzornig sein konnte, hatte in ihrem Innern eine jener winzigen, hinterhältigen Verletzungen hinterlassen, die zunächst kaum weh tun, doch mit der Zeit, ganz langsam und unerbittlich, ihr schmerzhaftes Potential entfalten.
    Sie hatte in keiner Weise versucht, ihn zurückzuhalten. Das eheliche Band löste sich unmerklich, wie ein Knoten, der aus zwei verschiedenen, allmählich locker werdenden Schnüren besteht. Denise war sich dessen deutlich bewußt. Sie war von einer tiefen Niedergeschlagenheit ergriffen worden, einem Gefühl, wie wenn man im Traum zusieht, wie das eigene Haus niederbrennt, übermannt von Schwäche und Gleichgültigkeit, als hätte man nichts mit diesem Haus zu tun.
    Als Jessaint fortgefahren war, ging sie zu Francette, um sie voller Ungestüm zu umarmen. Sie fragte das Kindermädchen, wie es der Kleinen ging, und fand, daß sie magerer und blasser geworden sei, obwohl Francette pausbäckig war wie ein Pfirsich. Sie bedeckte die kleinen Arme und die nackten Beinchen unter dem kurzen weißen Kleid mit Küssen; sie wollte genau wissen, woher dieser blaue Fleck und jener Kratzer stammten, die sie an den Knien oder an den rosigen Ellbogen entdeckte. Einen Augenblick lang hatte sie Lust, das Kindermädchen für heute zu entlassen und sich bis zum Abend selbst um Francette zu kümmern. Man sagt, daß diese kleinen Wesen einen von so vielen Übeln heilen können … Und das Zimmer war so hell, so fröhlich. Auf dem Tisch schlief Francettes große schwarze Katze in der Sonne; als sie Denise sah, ließ sie sich dazu herbei, sich aufzurichten, den Rücken zu krümmen und eine der langen samtigen und krallenbewehrten Tatzen auszustrecken …
    Francette hatte jedoch am Vortag einen neuen Roller bekommen; bald riß sie sich von ihrer Maman los, um mit ihrem neuen Spielzeug herumzulaufen. Denise wußte, daß sie das wahrscheinlich den ganzen Tag lang tun würde, denn Francette pflegte sich mit unermüdlichem Eifer ihren Spielen hinzugeben. Denise wollte sie auf die Knie nehmen und ihr eine Geschichte erzählen, um die süße Wärme des kleinen Körpers noch eine Weile zu spüren. Doch das führte nur dazu, daß die Kleine vor Wut anfing zu weinen: Mademoiselle France war ein sehr eigensinniges kleines Persönchen. Denise mußte gehen.
    Den ganzen Tag wartete sie, doch Yves erschien nicht und sandte ihr kein Lebenszeichen. Noch spät am Abend saß Denise neben dem Telefon, den Kopf in die Hände gelegt. Als es fast Mitternacht geworden war, warf sie sich auf ihr Bett und sank in einen unruhigen, oberflächlichen Schlaf. Am nächsten Tag war es sehr sonnig, und sie schickte Francette und das Kindermädchen zum Mittagessen ins Pré Catelan. Dann suchte sie verzweifelt nach einer Beschäftigung für den Tag. All ihre Freunde waren verreist: Es war die Saison, in der viele Pariser von Samstag bis Montag die Stadt verließen; Madame Franchevielle war schon in Vittel, wie jedes Jahr. Beim Gedanken an den einsamen Nachmittag, der ihr bevorstand, wurde Denise von einem Gefühl überwältigt, das an blankes Grauen grenzte. Wie es so oft geschieht, hatte ihre hartnäckige Hoffnung einer jäh einsetzenden Erschöpfung Platz gemacht; sie wartete nicht mehr auf den versprochenen Anruf; wenigstens wollte sie es versuchen. Tausendmal wäre sie fast der Versuchung erlegen, Yves zu schreiben, ihn aufzusuchen, mit ihm zu sprechen. Doch eine irrationale Angst ergriff sie, wenn sie daran dachte, seinem Gebot zuwiderzuhandeln. Sie kannte ihn so gut. Wenn sie ihn trotz seiner Bitte, ihn allein zu lassen, bedrängte, wäre er dazu fähig, sofort alles zu beenden. Bei diesem schwierigen, merkwürdigen Charakter wußte man nie … Es wurde ihr klar, daß sie nur eines machen konnte: geduldig darauf warten, wie er es ihr aufgetragen hatte, bis seine schlimmsten Sorgen abgeklungen waren – was es auch immer sein mochte –, ausgeschlafen wie ein Rausch. Wie anders war dieses männliche Leiden, das die Einsamkeit kuriert, als ihr eigenes liebendes Herz! Mein Gott, wie sehr würde Yves’ Gegenwart, nur ein Wort von ihm, eine Geste sie in ihrem Unglück trösten und beruhigen … Doch was sollte sie tun? Es war nun einmal so … Der Groll, den sie anfangs gegen ihn gehegt hatte, als er sie fortgeschickt hatte, war zu bitterer Resignation geworden. So war es. Nichts konnte etwas ändern an der eigensinnigen Blindheit ihrer Liebe. Getrieben von einer Art Fieber, begann sie nach Möglichkeiten zu suchen, sich zu beschäftigen. Denn einfach

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