Das mittlere Zimmer
ist.“
Unerwarteterweise verspürte Rike zuerst einmal Wut. Ein ganzer Tag weg! Mehr als 24 Stu nden! Einfach aus ihrem Leben gestrichen und für immer verloren!
„Das kann doch nicht sein ...“ , ließ sich jetzt wieder Achim vernehmen, Ungläubigkeit und Verwirrung in der Stimme. „Wir haben doch gestern Abend den Krimi gesehen, gestern, Freitagabend! Gestern war doch Freitag, oder nicht?“
Rike zögerte. Was sollte sie ihm sagen? Die Wahrheit? Dass es im Haus ein Ph änomen gab, das ihnen Zeit stahl? Das würde er nicht glauben. Weil ihr nichts anderes einfiel, antwortete sie: „Ja, ich meine auch, dass gestern Abend der Freitagskrimi lief. Vielleicht hat sich der Mann ja vertan, vielleicht ist der Supermarkt aus anderen Gründen geschlossen. Fahr doch einfach weiter in die Stadt, dann werden wir ja sehen.“
Achim folgte diesem Rat prompt und überraschend widerspruchslos, und natürlich waren alle Geschäfte in der Stadt geschlossen, bis auf eine Bäckerei und die Tan kstellen. Achim fuhr immer langsamer, und kurz bevor sie die Stadt verließen, hielt er am Straßenrand an und flüsterte, stocksteif dasitzend, die Hände am Lenkrad: „Das kann einfach nicht sein ... Rike, was ist da passiert?“
Seine Hilflosigkeit erschütterte sie. Sie wollte ihn umarmen, wollte ihm alles s agen, was sie wusste, wollte ihn trösten, wollte mit ihm nach einer Lösung des Problems suchen - und konnte es nicht. Sie brachte kein Wort über die Lippen. Sie durfte nicht.
Und so drehte sie den Kopf weg und schaute zum Seitenfenster hinaus, wo der Haupteingang der Stadtsparkasse zu sehen war. „Ich weiß nicht, was passiert ist. Bitte fahr nach Hause, ich halte es hier nicht mehr aus!“
Achim drehte um, und er fuhr so schnell und waghalsig, dass Rike mehr als einmal dachte, alle Probleme würden sich sowieso in wenigen Minuten von selbst lösen, wenn sie nämlich am nächsten Baum ihr Leben aushauchten.
Kaum waren sie heil zu Hause angekommen, als sich Achim schweigend auf den Dachboden zurückzog. Das war ihr nicht unrecht, da sie sowieso nicht gewusst hätte, was sie sagen sollte. Tief in ihr herrschte nackte Verzweiflung, aber sie tat alles, damit sie dort blieb. Zum Glück hatte sie Hannah, die sie ablenkte, und sie beschloss, mit ihr gemeinsam einen Kuchen zu backen.
Sie wog gerade die gemahlenen Hase lnüsse ab, die in den Kuchen gehörten, als ihr ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf schoss: die Dauer der verschwundenen Zeit wurde länger; zuerst zwei Stunden, dann vier Stunden und jetzt gute 32 Stunden! Würde das so weiter gehen? Würde irgendetwas ihr und ihrer Familie demnächst eine Woche, einen Monat oder ein Jahr stehlen? Am Ende sogar zehn Jahre, zwanzig Jahre? Wie würde es sein, nach einem Augenblick der ,Bewusstlosigkeit‘ zurückzukehren und festzustellen, dass zwanzig Jahre vergangen waren?
Und dann wurde ihr vor Schreck heiß von Kopf bis Fuß. Wer sagte denn, dass nicht tatsäc hlich zwanzig Jahre vergangen waren?! Wie kam sie darauf, dass es nur 32 Stunden waren?!
Sie ließ Hannah und alle Backzutaten stehen und lief ins Wohnzimmer, wo sie den Fernseher einschaltete und mit zitternden Fingern auf der Fernbedienung herumdrückte, um einen Sender zu finden, der das ganze Datum zeigte. Im Videotext eines Nachrichtensenders wurde sie fündig. Gott sei Dank, Gott sei Dank, das gleiche Jahr, der gleiche Monat! Es waren doch nur 32 Stunden!
„Mama, guck mal!“ , rief eine fröhliche Kinderstimme aus der Küche.
Hanna! Was hatte sie angestellt?! Rike rannte los. Auf keinen Fall durfte sie noch eine Minute länger in diesem Haus bleiben! Für einen Moment war sie fest entschlossen, Hannah zu packen, sich mit ihr in ihren Wagen zu setzen und dem Haus für immer den Rücken zu kehren!
Als sie die Küchentür erreichte, sah sie, dass Hannah eine Packung Eier aus dem Kühls chrank geholt hatte und mit der Packung herumhantierte, als handele es sich um einen unverwüstlichen Ziegelstein. Sie riss ihrer Tochter die Eier aus der Hand, was bei Hannah sofort wütendes Gebrüll auslöste. Rike musste ihre Tochter beruhigen, und der Gedanke an eine Flucht wurde erst einmal in den Hintergrund gedrängt.
Als Hannah sich endlich beruhigt hatte und zufrieden in der Teigschüssel rührte, wollte Rike zu ihren Fluchtgedanken zurückkehren, aber eine leise, besänftigende Stimme in ihr meinte, für ihre verschwundene Zeit bekomme sie etwas viel Wertvolleres zurück ... bald ... sie müsse nur bleiben, dann
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