Das mittlere Zimmer
fühlte sie sich gut bei ihm aufgehoben.
Ganz unerwartet ließ er sie los und schenkte ihr ein bedauerndes Lächeln. „Fahren wir?“
Rike nickte. Ihr war ein wenig schwindlig. Als sie aus der Haustür trat, kam die Sonne hinter den Wolken hervor. Sie stiegen ins Auto, und Rike fuhr nervös wie eine Anfängerin durch die blühende Landschaft. Am wenigsten konnte sie jetzt noch mehr Schweigen ertragen, also fing sie an, den Doktor auszufragen.
„Sie gönnen sich nach der Beerdigung doch sicher einen kleinen Urlaub. Oder wollen Sie lieber weiterarbeiten, um sich ... äh m ... um sich abzulenken?“ Du liebes Bisschen, war das nicht ein wenig taktlos?
Sei ne Antwort klang amüsiert. „Sie meinen, ich solle Urlaub nehmen, damit ich angemessen um Helga trauern kann? Ich soll meine Gefühle nicht verdrängen, damit ich nicht krank davon werde?“
„Ja ... so was in der Richtung.“
„Ach Rike, glauben Sie mir, ich hab schon um so viele Menschen getrauert, dass ich gewi ssermaßen geradezu Übung darin habe. Ich werde weiterarbeiten und mir trotzdem bewusst sein, was ich verloren habe. Und auch noch so manche Träne deswegen vergießen.“
Der Doktor machte eine Pause, und Rike sah ihn kurz an um festzustellen, ob sie anhalten und ihn trösten sollte, aber er schaute nur nachdenklich durch die Win dschutzscheibe und fuhr plötzlich fort: „Wie läuft´s denn bei Ihnen zu Hause? Alles wieder in Ordnung?“
Der neugierige Unterton in seiner Stimme missfiel ihr. Er erwartete, dass nicht alles in Or dnung war. Er wollte, dass sie ihm etwas darüber erzählte. Und das war nicht richtig.
Und doch sprudelte auf einmal etwas aus ihr heraus. „Achim benimmt sich in letzter Zeit so komisch. Wir schweigen uns nur noch an.“
Sie hätte jetzt nichts lieber getan, als zwei Finger in den Mund zu stecken. Aber natürlich ging das nicht. Und so kullerten unaufhaltsam ein paar Tränen über ihre Wangen. Der Doktor streckte eine Hand aus und wischte die Tränen mit dem Daumen ab. Eigentlich wollte Rike reflexartig den Kopf wegziehen, aber sie war wie versteinert. Ein Wunder, dass sie den Wagen noch lenken konnte.
„Für jedes Problem gibt es eine Lösung“ , behauptete Wolter.
Glück licherweise kam eben die kleine Kirche am Stadtrand in Sicht, vor der eine Menge Autos parkten. Rike stellte den Wagen ab, sie stiegen aus, und immer mehr Menschen entdeckten den Doktor, kamen mit ernster Miene auf ihn zu und schüttelten ihm die Hand. Die halbe Kleinstadt schien ihn zu kennen, sogar der Bürgermeister drückte sein Beileid aus. Rike ließ sich immer weiter von der Menge, die ihn umringte, zurückdrängen. Schließlich war sie weder eine Verwandte noch eine Freundin.
In der Kirche lehnte sie den Platz in der ersten Reihe neben ihm, den er ihr anbot, mit Nac hdruck ab und setzte sich ganz nach hinten. Und als sich alle schweigend und gemessenen Schritts zu Fuß zum Friedhof begaben, ließ sie ihn allein vorangehen. Am Grab stellte sie sich in die zweite Reihe der etwa dreihundert Trauergäste, während der Doktor am Fußende neben dem Pfarrer stand, der ein paar tröstende Worte sprach.
Die Sonne ließ die neusprießenden Blätter an Büschen und Bäumen hellgrün leuc hten. Es war still bis auf die Stimme des Pfarrers und ein gelegentliches Hüsteln oder Aufseufzen einzelner Trauernder. Der Friedhof fiel nach Westen leicht ab, und so hatte man einen kilometerweiten Blick über sonnenbeschienene, grünsamtige Wälder und erdigbraune Felder.
Rike wurde e s allmählich zu warm. Sie zog den Mantel aus, legte ihn sich über den Arm und schaute wieder zu Wolter hinüber. Der Doktor hatte seine Hände vor dem Körper übereinander gelegt, sie versenkte ihren Blick in diese Hände, und irgendetwas an ihnen irritierte Rike auf einmal: wirkten sie nicht glatter und jünger als vor gut fünf Wochen, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte? Das waren nicht die Hände eines über Sechzigjährigen … oder hatte sie vielleicht Halluzinationen?
Rike riss ihren Blick los und lenkte ihn auf den blumengeschmückten Sarg, der schon zur Hälfte im dunklen Erdloch versenkt war.
Doch auf einmal hatte sie das Gefühl, angestarrt zu werden, und so schaute sie von dem tiefer sinkenden Sarg auf und meinte im gleichen Moment drüben, auf der anderen Seite des Grabes, in der Menge einen blonden Mann mit rotem Gesicht und Brille gesehen zu haben, der sich, als sie den Blick hob, sofort hinter den Umstehenden zu verbergen versuchte und sich in
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