Das mittlere Zimmer
rhythmisch an den Fingern. Als sie die Tränen in ihren Augen spürte, saugte sie noch energischer. Dann fiel ihr Blick auf die mit Blumen bemalte Küchenuhr, und sie wurde wütend.
Rike sprang auf, nahm die Uhr von der Wand und verstaute sie ganz hinten im Hä ngeschrank über der Arbeitsplatte. Anschließend eilte sie ins Wohnzimmer, holte die Pendeluhr von der Wand und schob sie einfach unter die Couch. Danach fühlte sie sich ruhiger.
Abends kam Achim wie immer spät aus dem Geschäft, setzte sich schweigend an den K üchentisch und löffelte gedankenversunken seine Suppe. Bis sein Blick zu der Stelle wanderte, wo bisher die Uhr gehangen hatte. Sein rechtes Auge begann zu zucken. Irritiert schaute er auf seine Armbanduhr, dann aß er weiter.
Nach dem Essen brachte er Hannah zu Bett und setzte sich im Wohnzimmer vor den Ferns eher. Rike saß schon dort und sah sich die Nachrichten an. Achim griff nach der Fernbedienung, die auf dem Tisch lag, und schaltete ein anderes Programm ein. Rike sagte nichts. Keine zwei Minuten später bemerkte er, dass die Pendeluhr nicht mehr an der Wand hing. Sofort stand er auf und stellte sich so vor den Couchtisch, dass er den Bildschirm verdeckte. Er stützte die Hände auf seine nicht eben schlanke Taille und sah Rike direkt in die Augen.
„Ich kann verstehen, dass du die hässliche Uhr in der Küche von der Wand geno mmen hast“, begann er in gefährlich ruhigem Ton, während jetzt beide Augen nervös zuckten, „aber meine Uhr bleibt hier hängen! Wo hast du sie hingetan?!“
Rike fühlte sich unbeeindruckt und befremdet zugleich: war die seltsame Gestalt vor dem Tisch tatsächlich der Mann, den sie geheiratet hatte?
„Wo, verdammt noch mal, hast du meine Uhr versteckt?!“, brüllte Achim sie an.
Jetzt war es so weit, jetzt würde er den Verstand v erlieren und sie umbringen. Der Gedanke war gar nicht so schrecklich, wie sie geglaubt hatte. Trotzdem stand sie auf, zeigte auf das Sofa, sagte „Da!“ und verließ den Raum. Oben im Schlafzimmer schloss sie sich ein und vergoss fingerlutschend ein paar Tränen. Das Schlimmste war, dass er sie nicht gefragt hatte, warum sie die Uhren abgehängt hatte. Er wusste es. Sie beide wussten es. Als Rike wieder nach unten ging, war Achim verschwunden.
Das Frühstück am nächsten Morgen vollzog sich in eisigem Schweigen. Am Abend kam Achim gar nicht zum Essen nach Hause. Er sagte auch nicht Bescheid. Erst als Rike kurz nach 23.00 Uhr im Bett lag, hörte sie ihn nicht eben leise die Stiege zum Dachboden hinaufklettern. War er womöglich volltrunken?
Am Mittwochmorgen verlangte er nach Kopfschmerztabletten und erzählte beim Frühstück brummig ein paar belanglose Dinge aus dem Geschäft. Rike läche lte und nickte ab und zu reserviert und konnte es kaum erwarten, dass er endlich ging.
Schließlich zog sie sich ein kurzes, enges, schwarzes Kleid an, schwarze Strümpfe, elegante, schwarze Schuhe und einen wadenlangen, schwarzen Lederma ntel. Als sie vor dem Spiegel auch noch ihren schwarzen Hut aufprobierte, kam sie sich vor wie die Witwe persönlich. Sie ließ den Hut weg.
Gegen 9.00 Uhr brachte sie eine weinerliche Hannah zu ihrer Mutter und fuhr zurück zum Haus des Doktors. Auf dem Parkplatz stand nur der Opel-Kombi. Hatte der arme Mann wir klich weder Verwandte noch Freunde? Und was war mit den Verwandten seiner verstorbenen Frau? Hatte er keinen Kontakt zu ihnen? Waren sie zerstritten?
Während Rike auf die Haustür zuging, wurde ihr plötzlich bewusst, wie sehr sie sich darauf freute, den Doktor wiederzusehen. Sie klingelte, und als sich die Tür öffnete, traute sie erst ihren Augen nicht. Einen Moment lang dachte sie, sie hätte vielleicht Wolters jüngeren Br uder vor sich, aber als er freudestrahlend sagte: „Hallo Rike, schön, dass Sie gekommen sind“, war jeder Zweifel, dass es sich nicht um den Doktor handeln könnte, verflogen.
Er hatte sich in den letzten Tagen eine neue Brille besorgt: eine moderne, schm alere, randlose Brille, die ihn nicht nur zehn Jahre jünger, sondern auch richtig attraktiv aussehen ließ. Sein Gesicht wirkte offener, wie befreit, jetzt zogen nicht die riesigen Brillengläser, sondern seine unbeschreiblich schönen Augen alle Blicke auf sich.
Wolter trug einen dunkelgrauen A nzug, der ihm sehr gut stand, aber mehr konnte Rike nicht registrieren, denn schon breitete er die Arme aus und drückte sie an sich. Sie wehrte sich nicht, im Gegenteil, sie sank ihm geradezu entgegen. Irgendwie
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