Das mittlere Zimmer
dass sie das anschwellende Rauschen in ihren Ohren erst hörte, als bereits der milchige Vorhang vor ihre Augen fiel, und ein blaues, blitzendes Etwas ihr Bewusstsein abschaltete.
Das erste, was sie sah, als sie zurückkam, war Achims blutiger Unterarm, dann das Entsetzen in seinen Augen. Zwei Sekunden später drehte er sich um und floh aus dem Zimmer. Sie wollte ihm hinterher rufen, dass er sie jetzt nicht einfach allein lassen dürfe, aber sie brachte kein Wort über die Lippen.
Stattdessen begann sie mit einer Faust auf die Arbeitsplatte neben der Spüle zu hämmern. Nein! Nein! Nein! Das musste aufhören! Sie wollte ihr altes Leben zurück! Sie hätte hier so glücklich sein sollen! Warum tat man ihr das an?!
Und wieder wollten die Tränen nicht kommen. Sie hörte auf zu hämmern und s ah durch das Fenster in den Garten. Rosa Wölkchen zogen über den dämmernden Himmel, die Sonne war hinter der Kastanie verschwunden. Vorhin war es halb acht gewesen, jetzt musste es nach neun Uhr sein. Welcher Tag? Welcher Monat? Welches -
Hannah! Wo war Hannah?!
Rike lief in den Flur. Aus dem Wohnzimmer wurden Stimmen laut. Der Fernseher. Sie rannte die Treppen hinauf und stürmte in Hannahs Zimmer. Hannah schien tief und fest zu schlafen. Als sie die Tür wieder zuzog, bekam sie mit, wie Achim die Stiege zum Dachboden hinaufkletterte.
Rasch lief sie nach unten ins Wohnzimmer, wo der Videotext des Fernsehers das Datum a nzeigte: am Morgen hatte man noch Mittwoch, den 12. Mai, geschrieben, jetzt war Mittwoch, der 2. Juni. Rike rechnete nach: drei Wochen. Man hatte ihr drei Wochen weggenommen!
Ihr wurde übel. Sie ließ sich in den nächsten Sessel fallen, stec kte zwei Finger in den Mund und lauschte entsetzt den Fragen, die ihr Verstand herausschrie: wie sollte sie es schaffen, diesem Haus zu entkommen?! Was geschah wirklich mit ihr, wenn sich ihr Bewusstsein verabschiedete?! Konnte man daran sterben?! Und wie, um Himmelswillen, erklärte man den Menschen in seiner Umgebung, wo man drei Wochen lang gewesen war, wenn man es doch selbst nicht wusste?!
Rike stand auf, öffnete im Wohnzimmerschrank das Fach mit den Spirituosen und nahm erst gar kein Glas, sondern trank den Kirschlikör direkt aus der Flasche. Fünf große Schlucke brauchte sie, um die Angst zu dämpfen und die Unruhe zu beruhigen. Danach sah sie eine Weile fern, aber ihre Lider wurden immer schwerer. Sie nahm die Likörflasche mit nach oben, zog sich aus, legte sich ins Bett und schloss die Augen. Keine Minute später fühlte sie sich wieder wach, und eine Frage war wieder da: Wie sollte sie ihre dreiwöchige Abwesenheit erklären? Ihren Eltern? Wolter, dem sie doch versprochen hatte, ihn zu besuchen? All den anderen Menschen, die sie vermisst hatten?
Ihr Verstand begann sich träge in Bewegung zu setzen. Spontanurlaub? Das würde wohl kaum jemand glauben. Erneuter Krankenhausaufenthalt? Warum sollten die Ärzte den Angehörigen nicht Bescheid sagen, wenn schon Rike und Achim vor lauter Krankheit nicht telefonieren konnten? Eine Entführung? Das wäre wohl die unglaubwürdigste Erklärung überhaupt, und am Ende hatten sie noch die Polizei und die Presse am Hals.
Rike setzte sich im Bett auf und trank noch ein paar Schlucke Likör. Das wärmte ihren M agen, benebelte aber vollends ihr Gehirn. Allmählich entglitten ihr die bewussten Gedanken, vermischten sich mit verschwommenen Erinnerungsfetzen, und schließlich schlief sie ein.
Geweckt wurde sie von Hannah, die in ihr Bett kletterte und sich an sie schmiegte. Einige Zeit später hörte Rike unten in der Küche das Klappern von Geschirr und roch den Duft frisch aufgebrühten Kaffees.
„Papa“, meinte Hannah nur, krabbelte aus dem Bett und lief nach unten. Rike stand auf, zog sich einen Morgenmantel über und folgte ihr. Sie hatte leichte Kopfschmerzen. Und was hatte es zu bedeuten, dass Achim Frühstück gemacht hatte?
Er empfing sie mit einem seltsamen Leuchten in den Augen, aber unter diesen A ugen malten sich dunkle Schatten ab, so als hätte er kaum geschlafen in der Nacht.
Sie saß noch keine zwei Sekunden am Tisch, als er ihr Kaffee eingoss und anfing zu r eden wie ein Wasserfall. „Hör zu, wir waren kürzlich wegen Hannahs Ausschlag im Krankenhaus ... zuerst sagten die Ärzte, es sei gefährlich, dann sagten sie, es sei nichts, und vor drei Wochen waren sie sicher, sie hätten doch ein hoch ansteckendes Virus entdeckt. Sie holten uns mitten in der Nacht aus dem Bett und steckten uns in
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