Das mittlere Zimmer
sie sich neben die schlafende Hannah auf die Couch, griff nach der Fernbedienung und schaltete ein anderes Programm ein. Neben ihr rollte sich Hannah auf den Rücken, wobei ihr der Daumen aus dem Mund rutschte.
Rikes Blick bohrte sich geistesabwesend in den feuchten Daumen, und plötzlich fanden zwei Finger ihrer linken Hand blitzschnell den Weg in ihren Mund. Sie lutschte und saugte an den Fingern wie ein drei Monate alter Säugling an seinem Schnuller, und es entspannte ihre Muskeln, besänftigte ihre Hoffnungslosigkeit und tat ihr einfach gut.
Da sie die Wohnzimmertür hinter sich zugemacht hatte, bekam sie nicht mit, wann Achim den Keller verließ. Jedenfalls tauchte er erst zum Abendessen auf und sprach kaum ein Wort, während seine Blicke immer wieder nervös zur Wanduhr glitten, gefolgt von misstrauischen Blicken auf seine Armbanduhr.
Rike legte sich gegen 23 Uhr ins Bett und wartete auf ihn, aber Achim kam nicht. Als sie morgens aufwachte, hatte er definitiv seine Seite des Bettes nicht benutzt. Beim Frühstück tat er so, als sei alles wie immer.
Rike fragte nicht nach. Sie erwähnte beiläufig, dass sie am Vormittag einen Kranz für Frau Wolter bestellen wollte, und dass sie am Mittwoch Dr. Wolter zur Kirche und zum Friedhof zu begleiten gedachte. Wie erwartet , sagte Achim nichts dazu, aber Rike sah, wie sein rechtes Auge hinter der Brille ein paar Mal zuckte.
Am späten Vormittag fuhr sie einkaufen. Hannah war unausstehlich. Wieder zu Hause, setzte Rike ihre Tochter kurzerhand vor den Fernseher und schlich sich hinauf auf den Dachboden. Irgendwie hatte sie geahnt, was sie dort vorfand: ein Lager aus Matra tze, Kissen und Decken in der hintersten Ecke und gegenüber ein nicht unerheblicher Vorrat an Konservendosen und Wasserflaschen, zwischen denen Rike auch eine volle und eine halbvolle Whiskyflasche entdeckte. In einer anderen Ecke lagen Zeitschriften und sein privater Laptop und ein paar schmutzige Kleidungsstücke herum.
Rike rührte nichts an. Ganz tief in ihrem Bauch verstand sie, warum ihr eigener Mann auf dem Dachboden hauste wie ein Landstreicher: er durfte sie nicht zu nah an sich heranlassen, um nicht die Qual spüren zu müssen, nicht mit ihr reden zu dürfen. Ging es ihr etwa anders?
Nach dem Mittagessen rief sie den Doktor an. Wolter meldete sich mit einer Stimme, die nicht mehr nach akuter Trauer klang. „Tierarztpr axis Dr. Wolter.“
„Wie geht es Ihnen?“ , fragte Rike.
„Schön, dass Sie mich anrufen, Rike. Ich darf Sie doch so nennen, oder? Wissen Sie, ich a rbeite wieder, um mich von den düsteren Gedanken abzulenken. Und abends nehme ich ein Beruhigungsmittel, damit ich schlafen kann. Und essen kann ich auch kaum, wahrscheinlich hab ich schon ein paar Kilo abgenommen.“ Wolter lachte freudlos. „Aber jetzt sagen Sie mir doch, wie es Ihnen geht, Sie hören sich müde an.“
Rike wunderte sich ein wenig über seine Mitteilsamkeit, aber es tat gut, mit einem Außenst ehenden über die eigene Stimmungslage reden zu können, auch wenn sie über die wahren Gründe nichts sagen durfte.
„Mir geht es tatsächlich nicht so gut, man könnte es eine Art ... äh m ... Ehekrise nennen.“
„Was ist denn passiert, um Himmelswillen?“ , fragte der Doktor, Interesse und Mitgefühl in der Stimme.
„Ach, ich möchte jetzt nicht in Einzelheiten gehen. Eigentlich wollte ich Ihnen nur sagen, dass ich Sie natürlich am Mittwoch zur Kirche mitnehme. Was hat man eigentlich mit Nero gemacht?“
„Ich wollte nicht, dass man ihn einschläfert, das arme Tier kann doch am allerwenigsten d afür!“, ereiferte sich der Doktor, und so diskutierten sie noch eine Weile über Hunde und ihre Besitzer, bis Wolter plötzlich erklärte, sein anderer Apparat zeige einen Notruf an.
Sie verabschiedeten sich bis Mittwoch, und Rike setzte sich eine Weile in die Küche, trank Kaffee und freute sich über das angenehme Gefühl im Bauch, das Wolters warmherziges Int eresse verursacht hatte. Jetzt nannte er sie schon beim Vornamen ... ja, und? Er war nur ein armer, alter Mann, der gerade seine Frau verloren hatte und ein wenig Trost und Mitleid suchte.
Und a uch sie suchte Trost und Mitgefühl. Rike steckte zwei Finger in den Mund und sah aus dem Fenster in den Garten, in dem nun jeder Baum und jeder Busch in Blüte stand. Es hätte so schön sein können. Ein Traum. Ein schöner, harmonischer Traum. Die Traumfamilie im Traumhaus mit Garten. Jetzt bröckelte der Traum auseinander.
Rike lutschte
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