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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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einmal durch und noch einmal und ein viertes Mal. Ging der Doktor davon aus, dass Achim nicht mit zur Beerdigung kam? Oder interpretierte sie seine Nachricht falsch? Sie würde darüber nachdenken und ihm am Montag Bescheid geben.
    Mittags beim Essen bemerkte sie, dass Achims rechtes Auge nlid ab und zu zuckte. Sie wollte ihn darauf ansprechen, wollte den ganzen Mist auf den Tisch packen, wollte Schluss machen mit dem Alptraum und das Haus verlassen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, ihre Zunge wie aus Stein. Sie richtete ihre Augen, die sich mit Tränen füllten, gegen die Decke und versuchte, ihre Ohnmacht hinunterzuschlucken.
    Aber auch das ging nicht. Sie sprang vom Tisch auf, lief hoch ins Schlafzimmer und schloss sich ein. Eine halbe Stunde lang flossen die Tr änen, doch Achim klopfte nicht ein einziges Mal an die Tür, um zu fragen, was los sei oder wie es ihr gehe.
    Ein paar Minuten lang hatte sie sogar das Gefühl, verrückt zu werden. Ein grässliches G efühl, ein Gefühl völliger Überlastung, das Gefühl, gleich werde im Kopf etwas auseinanderreißen, das nie wieder zusammengefügt werden konnte. Sie saß mit offenem Mund und angehaltenem Atem auf ihrem Bett, ins Nichts starrend, und wartete darauf, dass ihr Verstand auseinander flog.
    Doch das Gefühl ließ nach, und ihr Verstand schien noch zu funktionieren. Mit ihrem ve rweinten Gesicht ging sie zurück in die Küche, die Achim keine zwei Sekunden später wortlos verließ, um sich vor den Fernseher zu setzen.
    Am Sonntag (Achim arbeitete vermutlich in der Garage, Hannah schlief auf der Wohnzi mmercouch), fühlte Rike eine unbestimmte Unruhe im ganzen Körper. Sie lief im Erdgeschoss im Flur hin und her, immer ein Stückchen näher an die Kellertür heran. Und plötzlich stand sie auf der finsteren Kellertreppe und wusste kaum, wie sie dorthin gekommen war. Vorsichtig tastete sie sich abwärts bis in den Gang zwischen den beiden großen Kellerräumen hinunter und wartete darauf, dass ihre Augen den blauen Schimmer wahrnahmen.
    Auf einmal war ihr, als höre sie nur ein paar Meter entfernt ein leises, heimliches A tmen. Sie hielt die Luft an, schloss die Augen und konzentrierte sich aufs Hören. Ja, da war es wieder! Da war jemand! In ihrem Keller! Ein Einbrecher? Ein Raubmörder?
    Der Schreck schickte Rike eine Hitzewelle von den Zehenspitzen bis unter die dicken Haare. Wie sollte sie sich verhalten? Der Verbrecher musste sie doch bemerkt haben, als sie die Treppe herunterkam. Was würde er jetzt tun?!
    Rike stand still und starr und stumm da und blickte in die Richtung, aus der das Atmen kam, und schließlich meinte sie in ein paar Metern Entfernung einen nicht scharf umrissenen Schatten erkennen zu können. Der sich genauso wenig bewegte wie sie. Der weder Anstalten machte näher zu kommen, noch zu fliehen versuchte. Der vielleicht genauso überrascht und erschrocken war wie sie, und der wie sie eigentlich nicht dabei ertappt werden wollte, wie er sich im dunklen Keller von einem blau leuchtenden Fußboden faszinieren ließ. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, wusste Rike, dass da vorne kein Einbrecher in ihrem Keller stand - der, der ihr hier unten Gesellschaft leistete, war Achim!
    Für einen Moment empfand sie eine geradezu absurde Wut. Das war ihr Keller! Das war ihre Verheißung! Hier hatte niemand etwas zu suchen! Erst recht Achim nicht!
    Aber dann dachte sie an sein zuckendes Auge, an sein blödes Grinsen, an seine verzweifelten, vergeblichen Versuche, die Zeit und seine Gefühle zu kontrollieren. Und er tat ihr so leid, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie musste ihm helfen!
    Und doch, sie bemerkte es mit wachsendem Grauen, konnte sie sich nicht rühren, konnte nicht sprechen, konnte nicht zu ihm hinübergehen, ihn nicht berühren, ihn nicht trösten, ihm nicht nahe sein.
    Sie konnte nicht. Sie durfte nicht.
    Und sie wusste, dass auch er es nicht konnte und nicht durfte. Keine drei Meter entfernt standen sie sich im dunklen Keller gegenüber, doch es war, als lägen Milliarden von Kilometern zwischen ihnen. Einsame Sterne im Universum. Unerreichbar und in Eiseskälte erstarrt. Allein. Einsam jenseits aller Vorstellungskraft. So einsam, dass es wehtat. So allein, dass Rike hätte schreien mögen. Aber auch das Schreien blieb ihr im Hals stecken. Es erstickte sie fast. Keine Spur mehr von Verheißung, von Hoffnung. Das war unerträglich. Sie ertrug es nicht, drehte sich um und tastete sich die Treppe hinauf.
    Im Wohnzimmer setzte

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