Das mittlere Zimmer
aufgerichtet, als Hannahs zartes, von blonden Locken umrahmtes Gesicht vor ihr auftauchte. Nein, das durfte sie ihrer Tochter nicht antun!
Rike schluchzte auf , und jetzt flossen die Tränen doch. Sie rollte sich auf die Seite und weinte und tat sich selbst so leid, dass sie noch mehr weinen musste. Nach einer Stunde versiegte der Tränenstrom allmählich, und Rike begann sich mit der Idee zu trösten, dass es vielleicht doch eine Lösung gab. Hatte Wolter nicht überzeugend behauptet: für jedes Problem gäbe es eine Lösung? Wirkte er nicht immer ruhig und überlegen? War er nicht ein intelligenter, erfahrener Mann? Er würde wissen, was zu tun war. Er hatte ihr für den nächsten Tag ein Gespräch angeboten, und sie hatte versprochen zu kommen. Sie musste sich nur mit aller Willenskraft über das Redeverbot in ihr hinwegsetzen und ihm alles über das Zeitphänomen erzählen. Und Tierarzt Dr. Wolter, der Mann mit den schönsten Augen weit und breit, würde ihr zur Seite stehen und das Problem lösen!
Rike tupfte die letzten Tränen ab und fühlte sich von Minute zu Minute zuversichtl icher. Sie stand auf, ging hinunter in die Küche und briet sich Spiegeleier. Nach dem Essen holte sie Hannah ab. Sie ertappte sich unterwegs sogar bei dem Gedanken, dass das Zeitphänomen womöglich vorbei und erledigt sei und nie wieder auftreten würde.
Da immer noch die Sonne schien, beschloss sie, im Vorgarten Unkraut zu jäten. Hannah spie lte mit Erde und Kieselsteinen und lief hierhin und dorthin. Rike behielt sie im Auge.
Zur gewohnten Zeit bereitete sie das Abendessen zu, und Achim kam überraschend pün ktlich nach Hause und setzte sich schweigend an den Tisch. Mit verschlossener Miene beobachtete er, was sie tat. Nachdem sie sich ebenfalls gesetzt hatte, fragte er plötzlich: „Und, wie war’s auf der Beerdigung?“ Das Lid seines rechten, blauen Auges zuckte ein paar Mal.
„Wie es auf Beerdigungen halt so ist“ , antwortete Rike betont gleichmütig und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Warst du auch da? Ich dachte, ich hätte dich gesehen.“
Achim brummte etwas Unverständliches vor sich hin, nahm seine Gabel, sah auf seine Karto ffeln und fing an zu essen. Rike musste sich wohl oder übel mit Hannah unterhalten, die nach dem Essen ziemlich schnell von Achim zu Bett gebracht wurde. Rike war noch damit beschäftigt, Geschirr wegzuräumen, als sie hinter sich ein Räuspern hörte. Sie drehte sich um, und vor Schreck wäre ihr beinah der Teller mit den Fleischresten aus der Hand gefallen. Für einen Moment hielt sie die Luft an.
Da stand Achim, die Krawatte vom Hals gerissen, die hellblauen Hemdsärmel hochgekre mpelt, die Unterarme voller roter Striemen, was aussah, als hätte er sich dort hingebungsvoll gekratzt. Die Augenlider zuckten in unregelmäßigem Rhythmus. Da stand er - wie man sich den Irren vorstellt, der gerade aus der Psychiatrie ausgebrochen ist. Dazu schnaufte er, als sei er zehn Treppen hinauf gerannt.
„Achim, was ist los mit dir?“ , hauchte sie tonlos.
Achim räusperte sich ein zweites Mal. „Was läuft da zwischen dir und dem Viehdo ktor?!“
Rike fand zunächst keine Worte. Was für eine Unterstellung! Was für kranke Geda nken!
„Achim, bist du noch ganz richtig im Kopf?!“ schimpfte sie schließlich, wenn auch mit einem flauen Gefühl im Magen, und stellte den Teller auf der Arbeitsplatte ab. „Seine Frau ist ger ade gestorben! Ich habe ihm nur ein bisschen zur Seite gestanden!“
„Das hab ich gesehen! Er hat dich geküsst!“
Aha, er war also doch auf dem Friedhof gewesen! Was war das hier für eine verrückte Szene?! „Du lieber Himmel, Achim, das war ein Abschiedsküsschen unter guten Bekannten! Wir haben -“
„Das kannst du deiner neurotischen Mutter erzählen, aber nicht mir!“ , fiel er ihr ins Wort. Seine Stimme war nicht laut, sondern eisig. „Wenn das alles so harmlos ist, warum ziehst du dann das kürzeste und engste Kleid an, das du im Schrank hast?“
„Aber ich -“
„Weißt du, wie der Kerl dich angeguckt hat?!“, fuhr Achim sie an und kratzte sich mit der rechten Hand am linken Unterarm, woraufhin die Striemen zu bluten begannen.
Sie wollte ihn gerade darauf aufmerksam machen und ihm ihre Hilfe anbieten, als er sie a nschrie: „Ich will nicht, dass du noch mal zu ihm hinfährst! Ich verbiete dir, überhaupt noch ein einziges Wort mit ihm zu reden!“
Ihre Aufmerksamkeit war so auf diesen keifenden, sich kratzenden Verrückten ko nzentriert,
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