Das mittlere Zimmer
ihrem Schutz davon zu machen schien. War das Achim gewesen? Was sollte das Versteckspiel?
Aber sie war sich nicht ganz sicher. Und plötzlich war sie sich auch nicht mehr sicher, ob Wolters Hände vor fünf Wochen tatsächlich so faltig gewesen waren, wie sie sich in ihrer Erinnerung einbildete. Verlor sie am Ende doch den Verstand?
Das trie b ihr die Tränen in die Augen. Wie gut, dass sie auf einer Beerdigung war.
Als schließlich die Beisetzung beendet war, und die Leute in kleinen Gruppen leise schwa tzend zu ihren Autos zurückgingen, gesellte sich Rike zu Wolter, der sich angeregt mit drei Männern im mittleren Alter unterhielt. Als er sie kommen sah, glitt sein Blick einmal blitzschnell von ihrem Gesicht zu ihren Beinen und zurück. Dieser Blick war schwer deutbar. Oder doch nicht?
„Rike, darf ich Ihnen ein paar meiner besten Freunde vorstellen? Gerd-Uwe Runge-Altenfeld, mit dem ich Klavier spiele, mein Kollege Dr. Werner Trösser und Jörg Spitz, der mich dazu überredet hat, wieder mehr Sport zu treiben. Und das ist Frau Eberhardt, meine neue Nachb arin, die mich hierher mitgenommen hat.“
Rike nickte den Männern grüßend zu, zog dann aber Wolter ein Stück zur Seite. „Wo llen Sie noch lange bleiben? Mir geht es nicht gut, und ich möchte so schnell wie möglich nach Hause!“
Seine Bernsteinaugen blickten sie durch die neue Brille lange (viel zu lange) prüfend an. „Hatte ich vergessen, Ihnen zu sagen, dass Sie natürlich nach der Beerdigung ins Restaurant eingeladen sind?“
„Ja, das haben Sie wohl vergessen. Aber danach ist mir jetzt nicht, und ich denke, Sie sind bei Ihren Freunden gut aufgehoben.“
„Ja, da haben Sie R echt, machen Sie sich um mich keine Sorgen.“ Wolter lächelte ein wenig traurig. „Aber ich mache mir immer mehr Sorgen um Sie. Bitte versprechen Sie mir, dass Sie morgen Nachmittag zum Kaffee zu mir kommen, ich glaube, wir müssen miteinander reden. Versprechen Sie mir das?“
Rike war nicht sicher, ob sie das wollte, aber sie versprach es trotzdem. Überr aschend beugte sich der Doktor vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Er lächelte sie noch einmal aufmunternd an und ging zurück zu seinen drei Freunden, die die Szene mit unverkennbarer Neugier beobachtet hatten.
So schnell wie möglich fuhr Rike zurück nach Hause. Unterwegs steckte sie zwei Finger in den Mund. Hannah würde sie später abholen, sie brauchte jetzt Zeit für sich. Aber zu Hause fand sie keine Ruhe. Fingerlutschen d lief sie von Zimmer zu Zimmer und musste immer wieder an den Doktor denken, an seine faszinierend beunruhigenden Augen und an seine erstaunliche Verwandlung. Konnte sich ein Mensch durch einen Bart und eine neue Brille um mindestens 15 Jahre verjüngen?
Als sie sich diese Frage stellte, schlich sie eben vor der Kellertür herum, und eine Stimme mitten aus ihrem Bauch heraus stellte konsequent die nächste Frage, die fast schon eine An twort war: musste seine Veränderung nicht unbedingt etwas mit dem Zeitphänomen zu tun haben? Rike saugte an ihren Fingern und ging noch einen Schritt weiter: war es möglich, dass Wolter selbst hinter dem ,Phänomen‘ steckte? Aber wie sollte das funktionieren? Drogen? Hypnose?
Ach Unsinn! Das Phänomen war aufgetreten, noch bevor sie den Doktor überhaupt näher kennen gelernt hatte! Sie zog Schlussfolgerungen, weil sie sonst keine Erkl ärung fand! Sie stellte Verbindungen zwischen Dingen her, die nichts miteinander zu tun hatten!
Plötzlich verlangte es sie danach, in den Keller hinunterzugehen, einfach nur da unten zu st ehen und die ,Verheißung‘ zu spüren ... zu spüren, dass alles gut werden würde, dass alles viel besser werden würde, als sie es sich vorstellen konnte!
Doch dann sie widerstand dem Verlangen, drehte der Kellertür den Rücken zu und stieg nach oben, um sich in ihrem Schlafzimmer auszuruhen. Je weiter sie sich von der Tür entfernte, desto stärker baute sich in ihrem Verstand ein Druck auf. Ich werde verrückt! Verrückt! Ich werde verrückt! Sie warf sich aufs Bett, um sich auszuweinen, aber die Tränen kamen nicht. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die von dunklen Balken gestützte Decke.
Sie hielt das alles nicht mehr aus. Sie ertrug kaum den Gedanken, Hannah gleich abholen zu müssen. Sie ertrug kaum den Gedanken, Tag um Tag neben einem schweigenden Achim l eben zu müssen. Sie ertrug das alles nicht mehr! Sie würde sich jetzt in ihren Wagen setzen und gegen einen Baum fahren!
Sie hatte sich schon
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