Das mittlere Zimmer
wusste, bevor sie endlich, an zwei Fingern lutschend, einschlief.
In den nächsten Tagen achtete sie genau darauf, ob Johanns Verhalten ihr gegenüber auch nur im kleinsten Detail vom sonst üblichen Verhalten abwich, aber er ging genauso liebevoll und respektvoll mit ihr um wie immer.
Im übrigen sah sie noch öfter als sonst bei der offen stehenden Garage vorbei, vor oder nach dem Einkaufen, während eines Spaziergangs, das Ha ndy immer in der Tasche, damit sie, falls die Vier auftauchten, sofort den Notarzt verständigen konnte.
Johann schien ihre Ruhelosigkeit zu akzeptieren, denn er fragte nur selten nach, w ohin sie schon wieder unterwegs sei.
Am Freitag fiel ihm aus heiterem Himmel ein, dass in der Kreisstadt am nächsten Abend die alljährliche, tierärztliche Landesversammlung stattfand. Er hatte die Einl adung seit Mai in der Schublade liegen. Er fragte Rike, ob sie mitkommen wolle. Rike hatte ein spontanes Nein auf der Zunge (sie wollte lieber in seinen Schränken herumschnüffeln!), aber plötzlich änderte sie aus einem warnenden Instinkt heraus ihre Meinung.
Sie gab vor, sich riesig zu freuen, und Johann, der sich gerade zum Mittagessen an den Tisch gesetzt hatte, schien sich über ihren Enthusiasmus eher zu wundern.
Der nächste Tag begann kühl, aber trocken. Rike machte sich im Garten und im Hof hinter dem Haus nützlich. Gegen Mittag klagte sie über massive Rückenschmerzen. Johann empfahl ihr ein heißes Bad, viel Magnesium und zwei Schmerztabletten.
Am Nachmittag begrüßte Johann zum Kaffee und zum anschließenden Schachspiel seinen Freund und Tierarztkollegen Werner Trösser. Er war kleiner als Johann, aber etwas breiter, und hatte Geheimratsecken im kurzgeschnittenen, grau werdenden Haar und zum Ausgleich dazu einen dichten Schnauzbart über der Oberlippe.
„Dr. Werner Trösser - wir hatten ja schon mehrfach das Vergnügen.“ Aus tiefblauen Augen lächelnd, schüttelte er Rike die Hand.
„Wollen wir uns nicht alle duzen?“ , mischte sich Johann ein.
Das taten sie und setzten sich an den Küchentisch, um Rikes selbstgebackenen Streuselkuchen zu probieren. Rike verzog während des Gesprächs immer wieder leidend das Gesicht. Als Johann wissen wollte, was los sei, erklärte sie, die Schmerzen seien kaum besser geworden und die vielen Schmerztabletten (die sie gar nicht genommen hatte) seien ihr heftig auf den Magen geschlagen. Sie werde wohl doch nicht mit zur Versammlung kommen. Johann verbot ihr sofort, noch mehr Kaffee zu trinken, stattdessen solle sie sich ein wenig hinlegen.
Während also Rike auf ihrem Bett ein Buch las, spielten Johann und Werner Schach gegene inander. Kurz vor 19.00 Uhr setzte sich Johann zu ihr aufs Bett und wollte wissen, wie es ihrem Rücken und ihrem Magen so ging.
„Ich hab immer noch das Gefühl, als müss te ich mich jeden Moment übergeben“, behauptete Rike und stöhnte einmal leise auf. „Ich möchte hier bleiben.“
„Gut, dann bleibe ich auch -“
„Nein, das will ich nicht! Du sollst dich nicht opfern!!“, protestierte sie. „Du hast dich auf den Abend gefreut, und du wirst hingehen! Vielleicht komme ich später nach ... wenn es mir besser geht.“
So diskutierten sie noch eine Weile hin und her, aber schließlich willigte Johann ein und verließ bald darauf mit seinem Freund Trösser das Haus.
Rike wartete eine halbe Stunde ab, dann eilte sie mit der Taschenlampe, einem bunten S upermarktprospekt, ihrem Handy und dem Telefon in der Hand nach oben, entfernte die Holzplatte aus der Zwischenwand und krabbelte nach drüben.
Draußen begann es langsam zu dämmern , und Johanns geheimes Arbeitszimmer versank in unterschiedlich tiefen Schatten. Rike sah zum Fenster hinaus, und da weit und breit keine Autoscheinwerfer aufleuchteten, zog sie rasch ein neues Heft aus dem Schrank und markierte die Stelle sorgfältig durch das hervorstehende Supermarktprospekt.
Eine Minute später hatte sie sich mit ihrer Taschenlampe in die Ecke hinter den Vorhang verkrochen, damit nur ja kein Lichtschein durchs Fenster nach draußen fiel, und versuchte sich kurz zu erinnern, was sie beim letzten Mal gelesen hatte: Distelrath hatte den Hof geerbt, seinem Bruder Wilhelm das Haus auf der Weide überlassen und versucht, seine Schwester Maria unter die Haube zu bringen. Allem Anschein nach war Bruder Wilhelm dem Zeitphänomen zum Opfer gefallen, hatte den Verstand verloren und war nach einem Angriff auf Distelrath eingesperrt worden. Und wahrscheinlich nicht
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