Das mittlere Zimmer
Nachmittag zu ihr in den Garten, krempelte beide Hem dsärmel nach oben, weil es draußen wärmer war als im Haus, und erklärte: „Ich muss weg. Die Kuh von Bauer Radtke hat Schwierigkeiten beim Kalben. Das kann zwei, drei Stunden dauern. Bis nachher.“
Er nahm Rike in den Arm , sah ihr mit zärtlichem Lächeln in die Augen und gab ihr einen langen Kuss, während Rike in Gedanken abschweifte und sich fragte, ob die Zeit reiche, den Kreis ganz auszusägen. Johann ließ sie los und betrachtete sie mit einem Blick, der (oder bildete sie sich das ein?) ein ganz klein wenig irritiert wirkte.
Doch schon drückte er ihr noch ein Küsschen auf die Stirn, meinte „Bis später dann“ , eilte mit der schweren Tasche, die er immer mit sich schleppte (und in der auch keine Schlüssel zu finden gewesen waren) zu seinem alten Kombi und fuhr davon, während er ihr ein letztes Mal zuwinkte. Keine zehn Minuten später hatte sie eine Kiste mit allem, was sie benötigte, nach oben getragen.
Sie fädelte das Sägeblatt in die Ritze und sägte konzentriert am Strich entlang. Zw ischendurch machte sie kurze Pausen, eilte ab und zu nach unten ans Flurfenster und machte sich eine Tasse Kaffee, die sie mit nach oben nahm.
Nachdem am Vortag der Regen aufgehört hatte, war es sofort wieder warm geworden. Schwülwarm. Rike schwitze. Als die nächste Flurfensterpause anstand, zog sie sich rasch eine kurze Hose und ein ärmelloses T-Shirt an. Sie schaffte es immerhin, den Kreis zu Dreivierteln auszusägen, bevor ihre Nerven nicht mehr mitspielten. Denn durch das laute Geräusch der Säge hörte sie natürlich nichts anderes mehr. Sie würde vor Schreck tot umfallen, wenn Johann plötzlich zur Tür hereinkäme und sie entgeistert fragte, warum sie an seiner Holzwand herumsägte!
Also packte sie das Werkzeug in die Kiste, sah noch eben aus dem Flurfenster, ob die Luft rein war und räumte die Sachen im Keller an ihren Platz. Als Johann vom Bauern Radtke z urückkehrte, lag sie bereits in der Badewanne. Er zog sich aus und leistete ihr Gesellschaft. Was auch dringend nötig war, denn er roch penetrant nach Kuhstall.
In den nächsten Tagen half sie öfters in der Praxis mit. Obwohl sie es anfangs nur getan hatte, um nach Schlüsseln zu suchen, fand sie allmählich Gefallen daran, kranke Tiere zu verarzten, ja, es erschien ihr zunehmend als eine sehr sinnvolle Tätigkeit.
Wie wunderbar würde es sein, wenn Hannah endlich wieder da war! In spätestens einem Jahr ging sie in den Kindergarten, und Rike würde sich morgens um die Tiere kümmern und ab nachmittags voll und ganz für ihre Tochter da sein. Was für ein schönes, ausgefülltes Leben. Und es war völlig klar, dass sie mit Hannah bei Johann leben würde, denn Achim wurde mit Sicherheit für den Rest seines Lebens in die Psychiatrie eingewiesen.
Lange konnte es nicht mehr dauern, bis die Vier auftauchten: sie waren seit drei Monaten ve rschollen, der September stand vor der Tür, es wurde Zeit, dass sie sich blicken ließen. Rike hatte Sehnsucht nach ihrer Tochter, sie wollte sie in den Arm nehmen, in ihre duftenden, blonden Locken fassen, ihre kleinkindzarte Haut streicheln, in ihre lachenden blauen Augen blicken.
Am Mittwoch, dem 1.September, wurde Johann nach dem Mittagessen zu einem Reitstall gerufen, weil gleich mehrere Pferde plötzlich von schwerem Durchfall g eplagt wurden.
Diese Gelegenheit ließ Rike nicht ungenutzt verstreichen. Kaum war sein hässlicher, alter Kombi auf die Straße eingebogen, als sie auch schon mit der Säge ins Dachbodenzimmer hinauflief und das letzte Stück des Kreises aussägte. Die Platte zog sie an den Schrauben, die sie im Holz angebracht hatte, aus der Öffnung, nahm die Lampe und leuchtete in den Hohlraum hinter der Holzwand, wo es praktisch die gleiche Ecke wie vor der Holzwand gab. Weiter vorne schien sie mit einer Art Vorhang vom restlichen Raum abgetrennt zu sein.
Rike zögerte nur einen kurzen Moment. Johann konnte unmöglich in der nächsten Vierte lstunde zurücksein (es sei denn, die Pferde waren bereits vor seiner Ankunft verstorben), und außerdem gab es in dem mysteriösen Dachbodenraum an der vorderen Giebelseite ein Fenster, durch das sie auf den Parkplatz hinabsehen konnte.
Sie deponierte die Lampe auf dem Boden hinter der Öffnung, schob sich mit Armen und Kopf nach drüben, wand ihre Hüften durch das Loch, robbte auf Unterarmen und Knien vorwärts, beseitigte leicht angewidert ein paar Staub- und Spinnfäden und kniete
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