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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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schließlich gebückt vor dem Vorhang, der ihr die Sicht ins linke Dachbodenzimmer versperrte.
    Was erwartete sie? War es wirklich ein Raum voller ausrangierter, angestaubter M öbel, wie Johann behauptet hatte? Ihr Herz klopfte schnell und stark, vor Anstrengung, vor Aufregung, und ein kleines bisschen auch vor Angst.
    Sie nahm die Lampe in die eine Hand und zog mit der anderen vorsichtig den Vo rhang aus schwerem, blauschwarzem Samt ein paar Zentimeter zur Seite. Danach brauchte sie die Lampe nicht mehr. Durch das Fenster in der Giebelwand fiel genug Licht, um zu sehen, dass dieses Zimmer deutlich anders hergerichtet war als der Trockenspeicher: alle Wände, auch die Schrägen, waren mit Holz verkleidet, der Fußboden mit dickem, blauem Veloursteppichboden ausgelegt.
    In der Nähe des Fensters stand ein großer antiker Schreibtisch mit einem genauso alten, lede rbezogenen Holzdrehstuhl davor. Viel mehr konnte sie durch den Spalt nicht erkennen. Sollte sie das Zimmer betreten? Dann dachte sie an das Fenster, schlüpfte durch den Vorhang, eilte durch den Raum, über den dicken Teppichboden am Schreibtisch vorbei und sah durch die Scheibe. Ein giftgrüner Wagen fuhr gerade vom Parkplatz auf die Straße. Von Johanns Auto keine Spur.
    Rike wandte sich um. Das Zimmer wirkte kleiner als der Trockenspeicher, weil zu beiden Seiten Schränke, Kommoden und Regale bis dicht unter die Schrägen nebeneinander aufg ereiht waren. In der einen Giebelecke stand ein schwerer, dunkelbrauner Ledersessel, daneben eine alte Messingstehlampe mit milchigweißem Glasschirm. Die gleiche Lampe in klein zierte den Schreibtisch. An der Decke war außerdem eine geschwungene Metallschiene mit mehreren Halogenstrahlern angebracht.
    Hier hatte sich jemand ein sehr komfortables Arbeitszimmer eingerichtet. Was gab es hier, von dem sie nichts wissen durfte?
    Rike warf noch einen schnellen Blick durchs Fenster, bevor sie sich dem ersten Schrank näherte. Was mochte Johann darin aufbewahren? Sie konnte sich überhaupt nichts vorstellen … schon gar nichts Schreckliches. Zögerlich, vielleicht ein wenig ängstlich, zog sie beide Türen des Oberteils auf: Auf vier Schrankböden waren vier Reihen unterschiedlich dicker Kladden oder Hefte ordentlich aufgestellt. Bei ihrem Anblick meldete sich ein seltsames Gefühl in Rikes Bauch, denn ihr Bauch sagte ihr mit tiefster Überzeugung, dass sie in diesen aberdutzenden Heften die Antwort auf all ihre Fragen finden werde.
    Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, und sie brauchte, so kam es ihr vor, Min uten, bis sie es wagte, die Hand auszustrecken und mit wild klopfendem Herzen eins der Hefte vom Anfang der ersten Reihe herauszuziehen. Sie ging damit nah ans Fenster und schlug das Heft auf. Es schien sich um ein Tagebuch zu handeln. Der erste Eintrag stammte aus dem Jahr 1811. Die vergilbte Seite bedeckte eine winzige, ungelenke Schrift, so dass kaum zu entziffern war, was da stand. Aber weil Rike so fest von der großen Bedeutung ihrer Entdeckung überzeugt war, gab sie sich Mühe.
     
    2. Juni 1811
    Wollen uns gerahde zur brotzeit sezen da zischt unt kniestert es über uns. Wir schauhen empohr unt vom Himel komt ein diker blauer bliz unt macht vile äste. Ein ast hat mich getrofen.
    Grohße schmerzen aber kein bluht. Aber der arz sagt das is nichts. Das thut mir vile mohnate we.
     
    Rike hob den Blick und ließ ihn ein paar Sekunden lang über den Parkplatz wandern. Kein Johann in Sicht. Dann sah sie sich die Vorderseite des Hefts genauer an: wer hatte das geschrieben? Ein Urahn von Johann? Vorne stand nichts, aber innen auf der Vorderseite war mit Mühe der Name Johann Distelrath zu entziffern. Ein Bruder seiner Urururgroßmutter vielleicht?
    Sollte sie jetzt weiterlesen? Würde sie es schaffen, alle Spuren ihres Eindringens in d as Zimmer zu beseitigen, wenn sie Johanns Wagen zur Einfahrt hereinkommen sah? Oder war es dann schon zu spät?
    Ihr Herz schlug noch schneller. Etwas drückte ihr auf den Magen. Fünf Minuten. Noch fünf Minuten, die mussten drin sein. Sie blätterte ein paar Seiten weiter im Heft.
     
    26.12.1821
    Mein lieber vahter schenkt mir die weihde wo der bliz hinein gefaren ist. Im merz werde ich mit hilfe meiner freunde ein haus dort erbauen.
     
    Aha, dieser Johann Distelrath hatte also 1821 d as fluchbeladene Haus dort hingesetzt. Weiter. Rike blätterte vor.
     
    16.11.1823
    Unser lieber vater ist heute nacht verstorben wegen sein schwaches herz. Jetzt erbe ich den hof unt das ist

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