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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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konnte sich plötzlich vorstellen, was er als nächstes getan hatte. Sie las weiter und ta tsächlich: er hatte seine Frau in Belgien zurückgelassen, hatte dafür gesorgt, dass das Haus auf der Weide vermietet wurde, dass im Wirtshaus wieder mehr Gäste übernachteten (denen vermutlich im Schlaf Zeit gestohlen wurde, ohne dass sie es je bemerkten) und dass sich auf dem Hof Knechte und Mägde niederließen, die wenigstens so lange blieben, bis die mysteriösen Zeitaussetzer sie vertrieben. Anscheinend waren alle Gebäude und Ländereien Distelraths vom ,blauen Licht‘ unterwandert und verseucht.
    Rike ertrug ihre Übelkeit und ließ den Blick weiter über die Seiten huschen. Nachdem Diste lrath alles erledigt hatte, fuhr er zurück nach Belgien und verbrachte dort ein paar leidenschaftliche, sorgenfreie Jahre mit Frau Elisabeth. Denn er war ein wohlhabender Mann, ohne dass er einer geregelten Arbeit nachgehen musste.
    Aber in gewisser Weise arbeitete er doch, nämlich an sich selbst. Im Laufe der Jahre ließ er sich von seiner gebildeten Elisabeth alles beibringen, was sie wusste, und begann Bücher zu lesen, sich für Musik und Geschichte zu interessieren und seine Kenntnisse in Bezug auf Rechtschreibung, Grammatik und Stil auf den neuesten Stand zu bringen.
    Das schien ihn zu beflügeln, denn seine Tagebucheintragungen wurden immer au sführlicher. Aber im Jahr 1856 hatte Distelrath wohl genug vom unbeschwerten Leben im Ausland. Es zog ihn zurück in sein Heimatdorf. Mittlerweile war er 65 Jahre alt, sah aber nach eigener Einschätzung aus wie Mitte Vierzig. Den Leuten, die ihn in seiner Heimat wiedererkannten, erzählte er, ein alter Chinese habe ihm geheime Pülverchen verkauft, die den Körper verjüngten.
    Nach der langen Zeit des Müßiggangs schien er darauf zu brennen, wieder einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, und so bat er den Pächter seines Hofes, im Pfe rdestall mitarbeiten zu dürfen.
    Elisabeth gefiel das weniger, und sie verwandelte sich, Distelraths Schilderungen z ufolge, im Laufe der Zeit in eine nörgelnde, ewig unzufriedene, keifende Xanthippe, die zudem noch ordentlich an Gewicht zulegte. An der Liebe hatte sie auch keinen Spaß mehr, und die meiste Zeit des Tages verbrachte sie angeblich dösend oder essend im Bett, um sich dann des Nachts über Schlaflosigkeit zu beschweren. Distelrath spielte immer wieder mit dem Gedanken, sich von ihr zu trennen. Und dann folgte die Eintragung über den Spaziergang an einem warmen Septembernachmittag.
     
    9.9.1858
    Mit Müh und Not überredete ich gestern mein liebreizendes Weib zu einer Wand erung durch den Wald südlich des Steinbruchs. An meiner Seite schnaufte sie den Pfad entlang, als trage sie einen Zweizentnersack Kartoffeln auf ihrem Buckel.
    Damit sie noch ein bisschen mehr zu schwitzen hatte, führte ich sie hinauf zu meinem Lie blingsplatz über dem Steinbruch. Dort angekommen rang sie, die Hände auf die breiten Hüften gestemmt, keuchend nach Atem, während ich den Blick über mein Dorf und meine Ländereien schweifen ließ und mich glücklich und kraftvoll und unsterblich fühlte!
    Als Elli wieder Luft bekam, begann sie sich augenblicklich darüber zu beklagen, warum ich sie auf diesen Berg geführt hatte, noch dazu an einem solch schwülen, gewittrigen Tag, w arum ich nicht mehr Rücksicht auf sie nahm, warum ich nicht mehr Zeit für sie hatte und warum sich ganz allgemein die Erde um die Sonne und nicht die Sonne um sie (Elli) drehte.
    Ich schwieg dazu und bedauerte, sie mitgenommen zu haben. Eben als ich vo rschlagen wollte ins Dorf zurückzukehren, machte sie ein paar Schritte vorwärts, beugte sich vor, versuchte hinabzuspähen und nörgelte: „Gibt es hier keinen kürzeren Weg nach unten?“
    Mir schoss eine hässliche Antwort durch den Kopf, doch bevor ich sie äußern konnte, rutschte plötzlich Ellis linker Fuß auf dem feuchten Gras aus, sie fiel auf die Knie, auf die Seite und rollte das schräg abfallende Stück Wiese auf den Abhang des Stei nbruchs zu.
    „Johann, hilf mir! Halt mich fest!“ , schrie Elli und warf die Arme hoch.
    Doch eigenartigerweise waren meine Füße wie am Boden festgenagelt und meine Hände wollten sich ihr überhaupt nicht entgegenstrecken.
    Und so schlitterte und kullerte Elli über die Kante und war verschwunden. Ich hörte noch sekundenlang so etwas wie einen kreischenden Schrei, aber er erschien mir so unwirklich wie die ganze Situation. Ich konnte mich eine Zeitlang nicht bewegen. Mir war

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